Zeit für Eisblumen
sich mit meinem Freund treffen wollte.
In der Küche sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Überall stand schmutziges Geschirr herum und die vorher zartgrüne Wand hinter dem Tisch war seit einigen Wochen mit orangefarbenen Klecksen gesprenkelt.
„Ich bin kurz im Bad“, rief ich Sam zu und setzte Paul auf dem Boden ab.
Im Badezimmer lehnte ich mich gegen die kühlen Fliesen und schloss für einen Moment die Augen. Vor mir stieg ein Bild aus einer längst vergangenen Frühlingsnacht auf: Es war warm und roch nach süßem Gras. Und ich konnte David sehen, wie er mit seiner Geige vor der dunklen Silhouette des Monopteros stand, angestrahlt vom Mond, und die Dunkelheit mit verheißungsvollen Klängen erfüllte.
Als ich meine Augen öffnete, stand meine Mutter vor mir. Ich schüttelte verwirrt den Kopf und Milla verschwand. Stattdessen blickte ich in mein eigenes Spiegelbild. Ich war blass und die feine Ader an meiner linken Schläfenseite, die ich so hasste, war deutlich sichtbar. Milla! In letzter Zeit sah ich sie ständig vor mir, wenn ich in den Spiegel schaute. Blonde Locken, blaue Augen und ein leicht vorstehendes Kinn. Schon als Kind hatte ich ihr ähnlich gesehen. Doch mit zunehmendem Alter mutierte ich immer mehr zu ihrem Zwilling. Nur ihre schmale, aristokratische Sharon-Stone-Nase, das Schönste an ihr, musste sie mir natürlich vorenthalten. Mein eigener Zinken war eher Modell Gérard Depardieu. Nichtsdestotrotz wurde nicht nur meine Mutter, sondern auch ich häufig mit der Schauspielerin aus „Basic Instinct“ verglichen. Meine Schwestern und Freundinnen beneideten mich um diese Ähnlichkeit. Ich selbst konnte jedoch keinen besonderen Vorteil darin sehen, stets von Männern angebaggert zu werden, die herausfinden wollten, ob ich einen Eispickel unter dem Bett versteckt hielt.
Paul patschte gegen die Tür. Doch ich ignorierte seine Bitte, ihn hereinzulassen. Nur ein paar Minuten Ruhe. Nur ein paar Minuten nicht funktionieren müssen.
Mechanisch griff ich in meinen Kosmetikbeutel, nahm einen hellen Concealer heraus und arbeitete ihn sanft in die Partie unter meinen Augen ein, um die Spuren des schrecklichen Vormittags wegzuschminken. Schon besser! Prüfend schob ich meine Ponysträhnen beiseite. Die Haut auf meiner Stirn sah aus, als hätte jemand mit einem Pizzarad darauf herumgerollt. Überall kleine Furchen und Linien – und oberhalb der Nasenwurzel zwei deutlich sichtbare Zornesfalten.
Vor meiner Schwangerschaft hatte ich mir alle drei Monate eine Botoxinjektion verabreichen lassen. Auch wenn ich wusste, dass ich für den Preis einer Spritze gleich zwei Kühe für eine afrikanische Familie kaufen könnte, so beruhigte ich mein schlechtes Gewissen stets damit, dass diese dreihundert Euro eine berufliche Investition waren. Als Paul sich ankündigte, hatte meine mütterliche Ader jedoch über die Eitelkeit gesiegt und die quartalsmäßige Giftdosis wurde durch Besuche im Kosmetikstudio ersetzt. Seitdem er auf der Welt war, fielen auch die flach, und ich verlegte mich stattdessen auf sündhaft teure Gesichts- und Augencremes. Doch wenn ich mich jetzt so betrachtete, waren die einfach nicht so effektiv wie Botoxspritzen. Ich beugte mich noch ein wenig näher an mein Spiegelbild heran und zog mit den Zeigefingern die Zornesfalten zwischen den Augenbrauen leicht auseinander. Sofort erschien mein Gesichtsausdruck entspannter. Ich musste dringend einen Termin bei meinem Dermatologen ausmachen! Und mir ein paar neue Kleider kaufen. In den letzten Monaten hatte ich Boutiquen, es sei denn, sie führten Kindermode, meist nur von außen gesehen.
Mein Herzschlag setzte für einen kurzen Moment aus, um dann umso heftiger gegen die Rippen zu pochen. Was war das denn? Sofort stieg Panik in mir auf. Nicht schon wieder! Doch dieses Mal würde ich nicht die Nerven verlieren. Wie groß war schließlich die Chance, zweimal an einem Tag fast zu sterben? Aber mein vegetatives Nervensystem war schneller als meine Ratio. Denn in Sekundenschnelle verengte sich mein Blickfeld erneut, und in meinen Ohren begann es, zu rauschen. Ich hörte nur noch den hämmernden Schlag meines Herzens, das wie eine Flipperkugel im Brustkorb herumtobte. In meinen Augenwinkeln sausten blinkende Fäden nach unten. Ein Gehirnschlag! War das die Strafe dafür, dass ich die Warnung von heute Mittag nicht ernst genommen hatte, mich eben noch um den Alterungsprozess meiner Haut und um meine Kleidung gesorgt hatte, anstatt dankbar zu sein,
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