Zeit für Eisblumen
Neuperlach wohnen, könnte unsere Nachbarschaft nicht schlimmer sein. Diese furchtbaren Aibls …“, begann sie.
Opa Willy spitzte aufmerksam die Ohren, doch mein Vater und ich verdrehten die Augen. Wir wussten, was jetzt kommen würde: ein endlos langer Monolog darüber, welch schrecklicher Tortur sie sich tagtäglich wegen ihrer Nachbarn ausgesetzt sah.
Ich bemühte mich, eine mitfühlende Miene aufzusetzen und in ihren kurzen Redepausen ein zustimmendes „Hm“ ertönen zu lassen, innerlich schaltete ich jedoch ab. Meiner Meinung nach sollte jemand, der täglich meditierte und mit allerlei spirituellen Wesen kommunizierte, Widrigkeiten des Alltags wie geköpften Hortensien ein wenig gelassener gegenüberstehen.
Andere Leute kaufen sich einen Hund oder eine Katze, wenn die Kinder groß werden, meine Mutter nahm Kontakt zu Engeln auf.
Da niemand außer ihr diese Wesen sehen und mit ihnen sprechen konnte, fiel es meinem Vater, meinen Schwestern und mir jedoch schwer, ihre Anwesenheit in unserer Familie zu akzeptieren. Vor allem, da sie sich mit Anweisungen uns gegenüber nicht zurückhielten. Sie ließen Lilly zum Beispiel ausrichten, dass sie sich nicht von einem Mann abhängig machen sollte, und sie waren vehement dagegen, dass ich mich Botoxbehandlungen unterzog. Meinem Vater rieten sie, kein Bier mehr zu trinken und Mia, Männer und Jobs weniger häufig wechseln. Lediglich die brave Helga verschonten sie mit klugen Ratschlägen. Diese Engel waren furchtbare Nervensägen!
Dabei hatte alles ganz harmlos begonnen: Nachdem Mia, als Letzte von uns vieren, vor drei Jahren von zu Hause ausgezogen war, bekam meine Mutter auf einmal schreckliche Kopfschmerzen. Wahrscheinlich fiel die Last jahrzehntelanger Anspannung von ihr ab. Aber Milla redete sich ein, sie hätte einen Tumor. Da keiner der Ärzte, die sie aufsuchte, etwas entdecken konnte, wandte sie sich an eine chinesische Kräuterfrau. Die Schmerzen in Millas Kopf verschwanden, die Bemerkung der guten Frau dagegen, selten so eine reine und starke Aura gesehen zu haben, hatte sich fest darin verankert. Milla begann sich fürs Esoterische zu interessieren, sie las Bücher über Wahrsagerei und ließ sich die Zukunft voraussagen. Nachdem ihr eine Handleserin aber einen schrecklichen Tod mit Ende vierzig prophezeite – meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt bereits Mitte fünfzig –, war sie zwar geschmeichelt, etliche Jahre jünger geschätzt zu werden, fühlte sich aber übers Ohr gehauen. Sie, die mir nie besonders religiös erschienen war, verlegte sich aufs Spirituelle und fand einen direkten Kanal zu Gottes himmlischen Helfern. Außerdem begann sie eine Ausbildung zur Reiki-Meisterin, eröffnete eine kleine Praxis in unserem Haus und schaffte es durch bloßes Handauflegen tatsächlich, mehrere Patienten von ihren körperlichen und geistigen Beschwerden zu befreien. Bei mir dagegen hatte sie versagt, was ihrer Meinung nach aber nicht an ihren mangelnden Fähigkeiten lag, sondern an meiner Unfähigkeit, mich den Energien des Universums zu öffnen.
Fremden Menschen mochte sie vielleicht helfen, doch an den Problemen ihrer Kinder und ihres Ehemanns war sie meist nicht interessiert. Das zeigte sich auch heute. Denn erst nachdem Milla sich gut fünfzehn Minuten über sämtliche Sünden der Aibls ausgelassen hatte, sah sie mich auf einmal erstaunt an.
„Wieso kommst du uns unter der Woche besuchen? Musst du morgen nicht arbeiten?“
„Ich bin krankgeschrieben.“
Milla hob eine Augenbraue. „Du siehst nicht krank aus?“
„Ich habe Halsschmerzen“, log ich.
Ihr würde ich bestimmt nichts von meiner Nahtoderfahrung erzählen. Ich hatte mich ihr einmal anvertraut, vor neun Monaten. Die wenig schmeichelhafte Aussage „Wir haben wohl bei unserer Erziehung irgendetwas falsch gemacht.“ war ihre einzige Reaktion darauf gewesen. Auch dieses Mal hakte sie nicht nach.
„Helga und ich wollen morgen Abend ins Kino gehen. Kommst du mit?“, fragte sie mich.
„Nein. Ich fahre morgen früh zurück nach München.“ Ich nahm Paul aus seinem Hochstuhl. „Komm, kleiner Mann! Ab ins Bett!“
Als ich eine halbe Stunde später geduscht und mit frischgewaschenen Haaren im Bett des Kinderzimmers lag, das ich mir jahrelang mit Helga hatte teilen müssen, bedauerte ich es, Millas himmlische Freunde in Worten und Gedanken so häufig verwünscht zu haben. Denn in dieser Nacht hätte ich einen Schutzengel gut gebrauchen können. Ich fürchtete mich davor, die Kontrolle
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