Zeit für Eisblumen
Boden um mich herum von Glasscherben und Zigarettenstummeln übersät, und zwei Obdachlose debattierten nur wenige Meter von uns entfernt über die Eurokrise. Paul schien sich nicht daran zu stören. Empört schrie er auf, als ich ihn trotz seiner Zerrerei am Gurt des Kinderwagens nicht abschnallte. Ich drückte Paul seine Stoffkuh Hugo in die Hand, die er heiß und innig liebte, drehte mich um und lief über die Maximilianstraße zum Viktualienmarkt, wo ich ihm eine Brezel, mir selbst eine Mango und ein Putenbrustfilet kaufte, und machte mich auf den Heimweg. Vor der Auslage von Ludwig Beck blieb ich stehen. Lichterketten blinkten mir entgegen und in der Luft lag der Geruch des ersten Schnees. Es versetzte mir einen Stich, als ich an die letzte Adventszeit dachte: Rund und voller Vorfreude hatte ich die Tage bis zu Pauls Geburt gezählt, ich hatte mit Sam sein Zimmer gestrichen, war mit Lilly durch die Kaufhäuser gezogen, um kleine Strampler, Bodys und Schlafanzüge zu kaufen und hatte ein Mobile gebastelt. Nachdenklich betrachtete ich meine Silhouette im Schaufenster. Herunterhängende Schultern, strähnige Haare. Und ich trug Turnschuhe. Was war ich nur für eine traurige Gestalt geworden!
Auf einmal wurde ich wütend: Auf Ulf, der mir eine Zwangspause verordnet hatte, auf Monika, die sich meinen Freund und meine Kolumne unter den Nagel reißen wollte, auf Sam, der sich von ihr einwickeln ließ, und dem es egal zu sein schien, wie schlecht es mir ging, und vor allem auf mich selbst. Dr. Mertens hatte mir gesagt, dass Panikattacken ungefährlich waren und die beiden, die ich gehabt hatte, lagen Wochen zurück. Warum zum Teufel ließ ich mir von diesem Erlebnis alles kaputtmachen? Aber das war vorbei. Wenn Ulf wollte, dass ich mich krankschreiben ließ, bitte! Zwei Monate bezahlter Urlaub hatten noch keinem geschadet. Um meinen Job würde ich kämpfen, und Sam – den knöpfte ich mir jetzt vor.
Ich blickte auf die Uhr. Halb acht. Sam und Monika saßen bestimmt beim Essen. Ich konnte mir auch vorstellen, wo.
Doch ich hatte mich geirrt. Denn im Schuhbauers, einem bayerischen In-Restaurant ein wenig abseits vom Marienplatz, fand ich die beiden nicht. Dabei hätte ich darauf wetten können. Seitdem das Schuhbauers nämlich eine großartige Besprechung in der Süddeutschen nebst Michelin-Stern bekommen hatte, musste man wochenlang vorbestellen, um dort einen Platz zu ergattern. Für Monika, die das Lokal einmal für einen Dirndl-Dreh gebucht hatte und den Besitzer persönlich kannte, genügte jedoch ein kurzer Anruf fünf Minuten vorher. Damit hatte sie vor uns Kollegen schon mehrere Male geprahlt. Doch anscheinend hatte sie sich etwas anderes überlegt, um Sam zu beeindrucken.
Enttäuscht schob ich den Kinderwagen zum Sendlinger Tor zurück. Paul war müde und wollte herausgenommen werden.
„Ab, ab!“, rief er in einer Tour und zerrte an seinem Gurt herum. Ich beschleunigte meinen Schritt. Als ich in die Sonnenstraße einbog, stand Pietro, der Chef der Pizzeria Tarullo’s, rauchend vor der Tür. Im Gegensatz zu Helgas Exfreund Giuseppe, der riesengroß, unglaublich steif und furchtbar langweilig war, erfüllte Pietro jegliches Vorurteil, dass Deutsche im Allgemeinen gegen Italiener hegten. Er trank viel Vino, er sang gerne und laut und er nannte mich „scheene, blonde Signorina“ und meinen Sohn „bellisimo Paolo“. Selbst wenn ich am Wochenende mit ungewaschenen Haaren und im grauen Jogginganzug nur kurz eine Pizza abholen wollte, legte er den Arm um mich, sah mir tief in die Augen und gab mir einen Handkuss. Mir und vermutlich jeder anderen Frau. Ich stöhnte auf. Nur das nicht. Nicht nach so einem Tag. Ich versuchte, so unauffällig wie möglich, die Straßenseite zu wechseln. Zu spät! Er wandte den Kopf in meine Richtung. Doch anders als sonst erhellte sich sein Gesicht nicht bei meinem Anblick. Im Gegenteil! Pietro tat so, als ob er mich nicht gesehen hätte und drehte sich demonstrativ weg. Er zog noch einmal an seiner Zigarette, trat sie aus und ging ins Restaurant. Nahm er es mir übel, dass ich ihn schon lange nicht mehr besucht hatte? Oder … Nein! Das wagte Sam nicht! Nicht zu unserem Lieblingsitaliener. Entschlossen ging ich zurück und betrat die kleine Pizzeria. Paul ließ ich im Eingangsbereich stehen.
„Ah, die blonde Signorina isse wieder da!“ Pietro kam auf mich zu, deutlich weniger begeistert als sonst. Er legte den Arm um mich und führte mich zur Theke. Wie immer trug er kurze,
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