Zeit für Eisblumen
nicht!
„Fee!“, drängte Susann. „Ich hab nicht viel Zeit. Wenn ihr den Beitrag heute noch schneiden und senden wollt, muss ich euch das Material in der nächsten Stunde schicken.“
„Ich habe es vergessen“, sagte ich tonlos.
„Du verarschst mich.“
Ich antwortete nicht.
„Scheiße! Du verarschst mich nicht.“ Susanns Stimme überschlug sich fast. „Wie kann man etwas so Wichtiges vergessen? Ich glaube es nicht.“
„Es tut mir leid“, murmelte ich unglücklich.
„Es tut dir leid, es tut dir leid“, äffte mich Susann nach. „Weißt du, wie oft ich diese Worte in den letzten Wochen aus deinem Mund gehört habe? Ich sehe zu, dass ich noch etwas retten kann.“ Grußlos legte sie auf.
Ulf rief mich in sein Büro. Sein sonst so freundliches Gesicht sah verkniffen aus.
„Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe, aber …“, begann ich, kaum dass ich den kleinen, fensterlosen Raum betreten hatte.
Ulf unterbrach mich mit betont ruhiger Stimme. „Zwei deiner Kollegen und ein Kamerateam waren drei Tage auf der Fashion Week und haben gedreht. Sie mussten nach Tokio fliegen und dort in einem Hotel übernachten. Ja, du hast einen Fehler gemacht. Aber weißt du auch, wie viel dein Fehler uns kostet? Zehntausend Euro reichen nicht. Ganz abgesehen von der Blamage, dass andere Sender über die Fashion Week berichten werden und wir nicht.“
„Es tut mir leid.“ Kleinlaut setzte ich mich ihm gegenüber.
„Ich muss dir eine Abmahnung schreiben.“
„Ich weiß.“
Ulf sah mich einige Augenblicke an, dann stützte er seinen Kopf schwer auf seine Hände.
„Was ist nur los mit dir? Du bist unpünktlich, unkonzentriert und deinen Beiträgen fehlt der Biss. Wächst dir alles über den Kopf?“
„Ja“, dachte ich, doch ich sprach es nicht aus, sondern starrte ausdruckslos vor mich hin.
„Sprich mit mir!“ Ulfs Stimme klang müde. „Kann ich irgendetwas für dich tun?“
„Nein. Ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist.“
„Du hast sehr früh angefangen, wieder zu arbeiten. Direkt nach dem Mutterschutz. Vielleicht wäre eine längere Pause gut gewesen.“
„Vielleicht.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Aber ich kann es nicht mehr ändern. Es ist also unsinnig, darüber nachzudenken.“
„Nein, ist es nicht.“ Ulf setzte sich auf. „Ich denke, dass es das Beste wäre, wenn du dich bis Ende des Jahres krankschreiben lässt.“
„Ich soll mich krankschreiben lassen? Aber warum? Mir fehlt nichts.“ Ich starrte ihn fassungslos an. „Und was ist mit meiner Kolumne?“
„Die wird Monika für dich übernehmen. Sie hat dich schließlich schon einmal vertreten.“
„Und was ist mit der Oscarmoderation? Du hast mir versprochen, dass ich nach L.A. fliegen darf. Soll das auch Monika für mich übernehmen?“
„Die Oscars werden erst Ende Februar verliehen. Bis dahin sind es noch drei Monate. Aber darüber solltest du dir jetzt keine Gedanken machen. Nimm dir eine Auszeit und sieh zu, dass du dein Leben in den Griff bekommst.“ Ulf schaute mich fest an. „Ich will die alte Fee wiederhaben, mit der neuen kann ich in der Redaktion nichts anfangen.“
Die Sonne war nur noch als orangefarbene Schattierung über den Hausdächern zu sehen, als ich mit Paul auf dem Arm in unsere Hofeinfahrt einbog, und in den Bäumen vor den Cafés und Geschäften blinkten die ersten Lichterketten auf. Lustlos schleppte ich mich die drei Stockwerke bis zu unserer Wohnung hoch. Vor der Tür stand das monatliche Schuhpaket von MyShoes. Ich schob es mit dem Fuß zur Seite. Vor einem Jahr hatte ich mich wie wild gefreut, wenn es eintraf. Mittlerweile platzte mein Schuhzimmer aber fast aus allen Nähten. Nachdem meine Modekolumne „Fees Welt“ vor zwei Jahren so gut bei den Zuschauern angekommen war, hatte MyShoes mich als Werbegesicht engagiert und lockte neben einem fetten Honorar auch mit Gratisschuhen.
Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und wollte ihn gerade umdrehen, als ich es mir anders überlegte. Ich zog ihn raus und ging nach unten in den Eingangsbereich. Dort holte ich den Kinderwagen aus seiner Nische, setzte Paul hinein und marschierte los. Vorbei am Sendlinger Tor, durch den Südfriedhof mit seinen prominenten Bewohnern, den Marmorengeln und den uralten Bäumen bis zu den Isarauen, die sich weitläufig von Süden nach Norden erstreckten. In der Nähe der Praterinsel wollte ich Paul aus dem Wagen lassen und mich einen Moment auf eine Bank setzen. Doch es war schon fast dunkel, der
Weitere Kostenlose Bücher