Zeit für Eisblumen
„Ich wusste doch, dass du dich nicht unterkriegen lässt.“
Tatsächlich kam mir meine rebellische Natur zugute. Denn ich ließ mich nicht unterkriegen. Die diffuse Angst, mit der ich seit den Panikattacken kämpfte, wollte zwar einfach nicht verschwinden und ich fühlte mich immer noch permanent benommen, aber ich schaffte es, diesen Zustand weitestgehend zu ignorieren.
Mit Sam lief es besser. Wir schliefen wieder häufiger miteinander, – manchmal dachte ich dabei sogar ausschließlich an ihn –, und Anni, ein Mädchen, das ein Stockwerk über uns wohnte, passte jeden Freitagabend auf Paul auf. Über meinen Anfall und seine verständnislose Reaktion darauf sprachen wir nicht.
Ende November marschierten Sam und ich mit Schlittschuhen über der Schulter zum Karlsplatz. Schneeflocken wirbelten herum und in der Fußgängerzone waren die ersten Weihnachtsmarktstände aufgebaut. Der Duft von Glühwein und gebrannten Mandeln lag in der Luft und die Schaufensterauslagen funkelten und glitzerten.
Ich liebte die Weihnachtszeit. Unauffällig schubste ich Sam in Richtung des Juweliers Christ, wo ich vor einigen Tagen eine mit Swarovskisteinen besetzte Uhr von Donna Karan gesehen hatte. Doch Sam durchschaute mich.
„Netter Versuch. Aber dein Weihnachtsgeschenk habe ich bereits.“
„Ernsthaft?“ Normalerweise war Sam eher ein Last-Minute-Typ.
Ich schmiegte mich an ihn. „Wann hast du es denn gekauft?“
„Es ist mehr ideeller Natur.“ Sam legte den Arm um mich.
„Du hast mir etwas gebastelt?“
Er schüttelte den Kopf. Gut! Denn Sam war handwerklich eine echte Niete. Die meisten Nägel in unserer Wohnung hatte ich in die Wand geschlagen.
„Du bindest dir eine rote Lackschleife um und schenkst mir dich selbst?“, scherzte ich.
„Mich hast du ja bereits.“ Er grinste. „Nein. Und du brauchst nicht weiterzuraten. Du kommst sowieso nicht drauf.“
Mittlerweile waren wir auf dem Karlsplatz angekommen. Dort hatten sich so viele Menschen versammelt, dass man kaum die Eisfläche sehen konnte.
„Ich bin schon ewig nicht mehr Schlittschuh gelaufen.“ Sam sah mich zweifelnd an.
„Kein Problem. Umfallen kannst du bei diesen Menschenmassen auf jeden Fall nicht.“
Er seufzte. „Gut. Stürzen wir uns ins Getümmel. Aber damit du es weißt. Das tue ich nur dir zuliebe.“
Hand in Hand stolperten wir über die spiegelglatte Eisfläche, drehten uns im Kreis und lachten gemeinsam über unsere unbeholfenen Versuche. Bei einer besonders wilden Pirouette wäre ich fast gefallen. Doch Sam fing mich auf. Nur wenig später fuhr eine Ambulanz mit Blaulicht an uns vorbei und ich fragte mich einmal mehr, warum nichts im Leben perfekt war.
Zehn Tage vor meiner Abreise nach Irland beschloss ich, Nägel mit Köpfen zu machen und Sam von meinen Reiseplänen zu berichten. Ich wusste selbst, dass es eine Schnapsidee war, Ende November dorthin zu fliegen. Welchen Grund konnte man schließlich haben, freiwillig bei Dauerregen über Schafweiden zu laufen, wenn auf der anderen Seite Ziele wie Tunesien nur wenige Flugstunden entfernt lagen, die mit Sonne, Meer und braungebrannten Barkeepern lockten? Und ich war mir sicher, dass auch Sam mir meinen Wunsch nach Einsamkeit und Selbstfindung nicht abkaufen würde. Der Zeitpunkt für mein Geständnis musste also strategisch geplant werden.
Ich entschied mich dafür, ihn ins Mamacitas am Isartor einzuladen. Sam liebte die Enchiladas dort, und während des Essens konnte ich ganz nebenbei das Gespräch auf meinen Urlaub bringen. Ich mochte das Restaurant mit seinen hellen freundlichen Farben und der riesigen Fensterfront, die an warmen Tagen komplett zur Seite geschoben wurde. Früher waren Sam und ich fast jede Woche dort zur After-Work-Party gegangen. Mit einem Baby verlief der Abend jedoch leider nicht so harmonisch, wie ich es mir erhofft hatte.
Kaum hatten Sam, Paul und ich nämlich das Lokal betreten, krabbelte unser Sohn zu den künstlichen Steinwänden, zog sich daran hoch und versuchte, einen Stein herauszupulen. Zunächst freuten Sam und ich uns darüber, dass er eine Beschäftigung gefunden hatte und Bauklötze, Stoffkuh Hugo und Knisterbuch in der Wickeltasche bleiben konnten. Wir gaben entspannt die Bestellung auf. Enchiladas mit Rindfleisch für Sam, ein Surf-and-Turf-Salat für mich. Als Aperitif gönnte ich mir einen Jumbo-Cocktail. Doch unsere Freude währte nur kurz, denn als Paul merkte, dass die Steine fest in der Wand verankert waren, schaute er vorwurfsvoll
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