Zeit für Eisblumen
Panikanfall bekäme? Was, wenn ich frontal mit einem LKW zusammenstieß? Und ich konnte David doch nicht gleich bei unserem ersten Treffen mit Paul auf dem Arm gegenübertreten. Doch auch Milla stand meinem Reiseziel zunächst skeptisch gegenüber.
„Muss es unbedingt Irland sein? Normalerweise fährt man doch im Frühling oder Sommer dorthin. Wenn alles grün ist und kleine Lämmchen über die Wiesen sausen. Wir könnten ein paar Wochen mit unserer Irlandreise warten und stattdessen nach Ägypten fliegen. Dort kann man jetzt noch im Meer baden.“ Sie zog die Stirn in Falten.
„Ach, wer will denn schon nach Ägypten!“ Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. „Und im Frühling und Sommer ist Irland viel zu überfüllt. Im Winter ist dort überhaupt nichts los und der Flug und die Hotels sind spottbillig. Außerdem“, ich packte meinen letzten Trumpf aus, „ist Irland das Land der Zwerge, Elfen und … Engel.“
„Der Engel?“
„Ja, der Engel. Und überall gibt es energetische Plätze, wo du dein Energiefeld neu aufladen kannst. Die Iren sind ein wahnsinnig spirituelles Volk.“
Ich überlegte kurz, ob ich zu dick aufgetragen hatte. Denn meine Mutter blickte mich misstrauisch an und fühlte sich offensichtlich nicht ernst genommen. Doch dann schien sie abzuwägen, was ihr lieber war, das Tanken von Energie oder das Tanken von Sonne, und ihre Spiritualität siegte.
„Na gut, ich komme mit. Vielleicht ist es ganz gut, wenn ich mal rauskomme.“
„Natürlich ist es das“, bekräftigte mein Vater. „Es ist doch toll, wenn du ein paar Tage deine Freiheit hast und tun und lassen kannst, was du willst.“
Ich verkniff mir nur mühsam ein Grinsen. Weit mehr als die Freiheit meiner Mutter lag ihm nämlich garantiert seine eigene am Herzen.
„Auch die dunkelste Nacht hat Sterne.“ Mit diesem Satz hatte Milla mich im Kindergarten und in der Grundschule immer aufgemuntert, wenn ich meinen Lieblingsteddy verloren hatte oder einer meiner Schmetterlingsohrringe kaputt gegangen war. Der kleine Stern war meist unmittelbar erschienen, und zwar in Form von Gummibärchen und Schokolade, die mir meine Mutter hinter dem Rücken meiner Geschwister verstohlen in die Backentaschen schob. In der Pubertät stand ich dieser Binsenweisheit etwas kritischer gegenüber. An die Stelle von verschwundenen Teddys und kaputten Schmetterlingsohrringen traten widerspenstige Jakobs, Simons und Ferdinands, die einfach nicht verstehen wollten, dass ich genau die Frau war, die sie bis an ihr Lebensende glücklich machen würde. Mein Herzschmerz ging tiefer und es brauchte eine viel größere Menge an zuckerhaltigen Nahrungsmitteln, um mich zu trösten. Doch eigentlich hatte Milla recht behalten: Irgendwie war es immer weitergegangen und keine Nacht blieb so dunkel, wie sie anfangs schien.
Auch dieses Mal tauchte, klein, rundlich und in eine verführerische Wolke Chanel No 5 getaucht, ein winziger Leuchtpunkt am ansonsten tiefschwarzen Himmel meiner Depression auf.
Einen Tag, nachdem Sam nach Marzling gekommen war, um sich von Paul zu verabschieden, und mich bei diesem Besuch wie eine Hausstaubmilbe behandelt hatte – klein, unsichtbar, aber trotzdem ausgesprochen lästig – lag ich morgens um halb sieben im Bett, Paul saß auf meinem Brustkorb und ich war zu schwach, ihn daran zu hindern, mir seine Finger in Augen, Nase, Ohren und Mund zu bohren.
„Mein Leben ist zu Ende!“, dachte ich dumpf. „Ich bin dick, alleinerziehend und bald arbeitslos. Meine Eltern streiten sich nur noch, meine Schwestern haben ihr eigenes Leben, mein Kind ist bald groß und dann habe ich niemanden mehr. Ich sitze zu Hause auf dem Sofa, lese Rosamunde-Pilcher-Romane und bastele Blumen aus Draht und Perlonstrümpfen.“ Besonders Letzteres erschien mir ausgesprochen trostlos und ich spürte, wie sich eine Träne in meinem rechten inneren Augenwinkel ansammelte.
„Da!“ Pauls Finger schoss interessiert nach vorne und bohrte sich in meinen Augapfel.
Auf meinem Nachtschränkchen vibrierte es. Mit schmerzendem Auge griff ich nach meinem Handy und schielte auf das Display. Ich hatte eine Kurzmitteilung erhalten. Von Sams Mutter Eva, die mich ins Münchner Café Luitpold zum Frühstück einladen wollte.
Ich parkte den Mini in der Nähe des Odeonsplatzes und marschierte die Brienner Straße hinauf zu dem altehrwürdigen Café. An diesem Wochenende hatte der Schwabinger Weihnachtsmarkt eröffnet und neben den Gitarrenklängen von Feliz Navidad drang
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