Zeit für Eisblumen
hingebungsvoll an seinem Schnuller saugte, und überlegte, wie ich den weiteren Abend gestalten konnte. Doch durchdringender Weihrauchgeruch ließ mich hochfahren.
„Was machst du?“, fragte ich Milla, die das Fenster weit geöffnet hatte und mit einem Räucherstäbchen in der Hand durchs Zimmer lief. „Das stinkt.“
„Ich vertreibe die negativen Energien, die frühere Bewohner hinterlassen haben. Du hast gehört, was Bennett gesagt hat: Dieses Haus war ein Bordell.“
„Aber das ist schon ewig her.“
„Negative Energien verschwinden nicht von selbst.“
Ich rollte die Augen gen Himmel. Ich war es ja gewohnt, dass meine Mutter nach jedem Putzen ein Räucherstäbchen anzündete, um nicht nur materiellen, sondern auch spirituellen Dreck zu vertreiben, aber ich hätte nicht gedacht, dass sie die Dinger mit in den Urlaub nahm.
„Und was machst du jetzt?“, fragte ich entsetzt. Milla hatte das Räucherstäbchen auf einem Teller ausgedrückt und kroch mit einem mit Steinen gefüllten Säckchen auf dem Boden herum.
„Ich lege Kristalle unter das Bett. Unser Bierwagenfahrer hat mir gesagt, dass sich darunter eine Wasserader befindet und ich habe keine Lust, schlecht zu schlafen.“
„Euer Bierwagenfahrer“, wiederholte ich schwach und starrte auf Milla, die vor mir auf dem Boden kniete.
„Ja, Tom. In dieser Hinsicht vertraue ich ihm blind.“
„Ist er denn schon einmal hier gewesen? Oder woher weiß er von der Wasserader?“
„Nein, ich habe ihm genau beschrieben, wo wir hinfahren, er hat ein Bett aufgemalt und ein Pendel darüber gehalten. Es hat sofort ausgeschlagen.“
Oh mein Gott!
Um das Gespräch in unverfänglichere Bahnen zu lenken, fragte ich: „Hast du auch so großen Hunger wie ich? Ich würde gerne noch etwas essen gehen. Das Restaurant nebenan hat eine gute Karte.“
Milla schüttelte den Kopf. „Nein. Ich trinke nachher mit Bennett noch ein Glas Wein. Wir müssen doch das Geld von dem Mietwagen reinholen. Aber geh nur! Ich hole Paul noch etwas zu essen und lege ihn ins Bett. Hast du ein Babyphon dabei?“
Ich nickte. Unglaublich, wie schnell sich die Laune meiner Mutter besserte, wenn ein attraktiver Mann in ihrer Nähe war.
„Denk dran, dass du verheiratet bist!“
Milla verdrehte die Augen. „Keine Angst, das vergesse ich nicht. Auch wenn ich es gerne würde. Dein Vater konnte es heute Nachmittag am Flughafen überhaupt nicht abwarten, mich loszuwerden. Hast du gesehen, wie er meinen Koffer aus dem Auto geworfen hat? In meinem früheren Leben muss ich eine Schlingpflanze oder eine Fußfessel gewesen sein.“
Da auch ich fand, dass der Abschied der beiden ein wenig rüde ausgefallen war, entgegnete ich nichts, sondern gab Paul einen Kuss und begab mich zu meinem einsamen Abendessen ins Busker Brownes. Bei demselben freundlichen Kellner, der mir das Hotel gezeigt hatte, gab ich meine Bestellung auf: eine creamy chicken soup und ein fresh seafood chowder. Dann zückte ich mein Handy und suchte das Studentenwohnheim, dessen Adresse mir David nach unserer gemeinsamen Nacht gegeben hatte, auf googlemaps. Es lag nur drei Kilometer von der Innenstadt entfernt. Dort würde ich ansetzen. Und vielleicht morgen schon David wiedersehen. David, mit der Geige und den alternativen Klamotten. David, der so unglaublich gut küssen konnte und mit dem an einem warmen Frühlingsmorgen im April alles seinen Anfang genommen hatte.
Der Kellner erschien mit der Suppe. Gedankenverloren löffelte ich sie in mich hinein …
„Was hältst du von dem?“ Fasziniert zeigte ich auf einen jungen Mann in einem karierten Hemd, ausgeblichener Jeans und Doc Martens, der sich hinter einer brasilianischen Trommelcombo und zwei Russinnen mit Violoncello in die Schlange eingereiht hatte.
Wir standen vor der Stadtinformation auf dem Münchner Marienplatz, um einen Bericht über ein Straßenmusiker-Casting zu drehen. Musiker, die in der Münchner Innenstadt spielen wollten, mussten nämlich ein ebenso strenges Auswahlverfahren über sich ergehen lassen wie ihre Kollegen aus dem Fernsehen. Nur zehn Lizenzen wurden jeden Tag vergeben.
„Der mit dem Geigenkasten in der Hand?“ Miriam, die Kamerafrau, machte ein beifälliges Gesicht. „Nicht schlecht. Wenn er nur einigermaßen spielen kann, werden wir uns an ihn ranhängen.“
Ich nickte. Der Typ war wirklich nicht schlecht. Sie hatte recht. Dabei entsprach er eigentlich nicht meinem Geschmack. Viel zu alternativ, viel zu jung und Männer mit langen Haaren
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