Zeit für Eisblumen
eines Morgens wachte man auf und stellte überrascht fest, dass es einem ein bisschen besser ging. Und dann noch ein bisschen besser. Und noch ein bisschen. Bis man sich schließlich fragte, was man an einem solchen Blödmann jemals gefunden hatte und sich neu verliebte. So war es jedenfalls bisher bei mir immer gewesen. Doch dieses Mal lief es nicht so. Im Gegenteil!
Vielleicht sollte ich Sam anrufen. Ihn darum bitten, noch einmal ganz von vorne anzufangen. Vielleicht! Aber die Erinnerung an zwei leere Weingläser und Zigarettenstummel, an denen roter Lippenstift klebte, hielt mich davon ab.
„Lass uns gehen!“, meinte Milla und riss mich damit aus meiner Melancholie.
Von der Sonne, die mich heute Morgen noch so vielversprechend begrüßt hatte, war nur noch ein schmaler Streifen zu sehen, und auch der wurde kurz darauf von den Wolken verschluckt. Wir hatten uns dazu entschlossen, den Vorschlag der Bäuerin anzunehmen und bis nach Dooagh zu wandern, da es auf direktem Weg zur Keem Bay lag. Von dort aus wollten wir mit dem Taxi weiterfahren.
Der kleine Fischerort Dooagh hatte seine besten Tage schon hinter sich und schien sich in einer Art Winterschlaf zu befinden. An unzähligen Cottages waren die Fensterläden geschlossen und an vielen Fassaden blätterte der weiße Putz ab. Der Wind war in den letzten Minuten deutlich schärfer geworden.
„Hu, ganz schön frisch“, meinte Milla und rieb sich die Hände. Sie kramte in ihrer Jackentasche herum und stieß kurz darauf einen leisen Fluch aus.
„Was ist?“, fragte ich.
„Ich habe meine Handschuhe im Bus liegen lassen.“
„Gleich sind wir im Warmen. Ich klingele an der nächstbesten Haustür und frage nach der Nummer eines Taxidienstes.“
Erst am dritten Haus wurde mir geöffnet. Eine ältere Frau in einer Kittelschürze stand in der Tür. In der Hand hielt sie eine Zigarette.
„Ein Taxi.“ Sie sah mich an, als hätte ich eine Flugmango von ihr verlangt. „Um diese Jahreszeit fahren hier draußen keine Taxis. Es lohnt sich nicht. Kaum Touristen.“
„Aber es muss doch auf dieser Insel einen Taxidienst geben.“
„Ja, in Achill Sound.“ Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette.
Achill Sound! Es würde mindestens eine halbe Stunde dauern, bis das Taxi hier wäre.
„Fährt ein Bus bis an die Keem Bay?“, fragte ich, obwohl ich im Internet keine Verbindung gefunden hatte.
„Im Winter?“ Sie lachte heiser. „Nein. Das Hotel ist geschlossen und surfen will um diese Jahreszeit auch niemand.“
„Und wie können wir dorthin kommen?“
„Es gibt zwei Möglichkeiten.“ Sie blies mir einen Rauchkringel ins Gesicht. „Entweder Sie gehen zu Fuß oder …“
„Ja.“ Ich horchte erwartungsvoll auf, da die erste Möglichkeit definitiv nicht in Betracht kam.
„Oder Sie trampen.“ Sie entblößte ihre gelben Zähne.
„Trampen?“ Ich hörte meine Mutter hinter mir keuchen. „Ganz sicher nicht.“
„Ach nein!“, stöhnte Milla auf, als ein kleines gelbes Auto an uns vorbeifuhr. Sie stampfte bibbernd von einem Fuß auf den anderen. „Ich habe dir gesagt, dass es eine Schnapsidee ist, sich hierhin zu stellen.“
„Jetzt warte doch erst einmal ab. Irgendjemand wird uns schon mitnehmen. Die Frau hat gemeint, dass Trampen in Irland eine durchaus gebräuchliche Fortbewegungsart ist. Selbst Schulkinder trampen.“
„Es ist trotzdem demütigend.“ Milla starrte missmutig auf den Boden. „Wir sollten in einen Pub gehen, uns an Guinness betrinken und warten, bis der nächste Bus kommt und uns zurück nach Westport fährt.“
„Mach das doch!“, schlug ich hoffnungsvoll vor. „Ich komme dich um kurz vor drei abholen.“
„Nein, nein. Ich bleibe. Du bist mit mir nach Dooagh gefahren, ich komme mit dir zu diesem Strand“, brummelte sie.
Ich verdrehte die Augen. Ein roter Fiat ließ uns links liegen.
„Vielleicht sollten wir die Kapuzen abnehmen, wenn das nächste Auto kommt, und ein wenig mit unseren Reizen spielen. Wahrscheinlich sehen wir so eingemummt wenig vertrauenerweckend aus“, schlug ich vor.
„Damit mir neben meinen Fingern auch die Ohren abfrieren? Nur über meine Leiche.“ Milla hauchte sich in ihre rotgefrorenen Hände. „Warum musste ich auch meine Handschuhe im Bus liegen lassen?“
Ein wenig mutlos blickte ich auf den Weg, der noch vor uns lag. Sechs Kilometer, 200 Höhenmeter und 534 Schafe später würden wir erst am Ziel sein. Und der Wind arbeitete gegen uns.
„Lass uns ein Stück gehen. Dadurch
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