Zeit für Eisblumen
gefahren, um kurz vor dem Ziel aufzugeben. Ich werde hier klingeln und mir den Weg aufzeichnen lassen.“ Sie zog ihren Notizblock und einen Stift aus dem Rucksack.
Doch der ältere Bauer, der ihr die Tür öffnete, sah sie verständnislos an, als sie nach dem Haus des deutschen Schriftstellers fragte. Er rief nach seiner Frau, doch auch die schüttelte nur ratlos den Kopf.
„Gut, ich gebe mich geschlagen“, meinte Milla, als beide nach einigen Minuten immer noch vorgaben, noch nie von Heinrich Böll gehört zu haben. „Man will uns einfach nicht weiterhelfen. Lass uns zu diesem verlassenen Dorf gehen! Können Sie uns wenigstens verraten, wie wir dorthin gelangen, oder ist das auch ein Geheimnis?“ Sie bedachte das Ehepaar mit einem zuckersüßen Lächeln.
Anscheinend nicht. Denn beide erklärten uns sofort den Weg zu der Ruinensiedlung.
„Von dort aus können Sie auch eine wunderschöne Rundwanderung machen“, schlug die Frau vor. „Wenn Sie dem Pfad bis zu einem alten Quarzsteinbruch folgen, kommen Sie auf einer Schotterstraße nach Dooagh und von dort wieder nach Doogort zurück.“
„Zu freundlich von Ihnen. Wir werden darüber nachdenken.“ Milla drehte sich mit grimmigem Gesicht um und ging.
Wir liefen den schmalen Sandstrand entlang auf den Mount Slivemore zu, an dessen Südhängen sich das verlassene Dorf befand. Es roch nach Salz und Tang, der Wind spielte in unseren Haaren und die Sonne schien auf uns herunter. Doch Millas Laune blieb bedeckt.
„Haben sich alle gegen uns verschworen?“, wütete sie. „Es kann doch nicht sein, dass uns niemand sagen kann, wo dieses Cottage liegt. Und die beiden wissen nicht, wer Heinrich Böll ist? Dass ich nicht lache!“
„Vielleicht wollen die Künstler nicht, dass ständig Touristen bei ihnen vorbeigeschickt werden. Denk an die Plakette!“
„Pah!“ Milla schnaubte. „Ich werde schon noch herausfinden, wo sich dieses Cottage befindet, und dann komme ich zurück und klingele Sturm. Diese Künstler können mich mal. Mich so auflaufen zu lassen.“
„Vielleicht kannst du dabei einen deiner unzähligen Engel um Unterstützung bitten“, stichelte ich. „Wie heißt er doch gleich? Der, der verlorene Sachen zurückbringt? Antonius?“
„Das ist ein Heiliger und kein Engel.“ Ihre Mundwinkel bogen sich leicht nach oben.
Schon bald tauchten die ersten Ruinen vor uns auf. Hatte ich nur einige verfallene Steinwände erwartet, so wurde ich eines Besseren belehrt, denn ein komplettes Dorf erstreckte sich vor meinen Augen. Eins, zwei, drei, vier, … bei vierzig Cottages gab ich es auf, zu zählen. Es mussten an die hundert sein.
„Heinrich Böll hat dieses Dorf als das Skelett einer menschlichen Siedlung bezeichnet. Und es stimmt.“ Milla zog fröstelnd die Schultern hoch. „Bei Dunkelheit möchte ich nicht hier sein. Nicht einmal Schafe gibt es.“
Ich musste ihr recht geben. Etwas Trostloses ging von diesem Ort aus und ich stellte mir unwillkürlich vor, wie dieses Dorf vor zweihundert Jahren ausgesehen haben mochte, als die Häuser noch nicht verfallen waren und einen aus toten, leeren Fensterhöhlen anstarrten. Der Weg, den wir entlang marschierten, musste die Hauptstraße gewesen sein und der runde unbebaute Fleck in der Mitte wohl der Dorfplatz. Vielleicht hatte hier ein Pub gestanden, in den die Menschen nach der Arbeit gegangen waren, sich bei Bier, Wein oder was auch immer über den neuesten Dorfklatsch austauschten und ihre Probleme miteinander teilten. In der Ecke einer Ruine sah ich einen Schnuller liegen. Rot glänzte er zwischen den vertrockneten Grasbüscheln, die sich durch die harte Erde gekämpft hatten, und obwohl ich wusste, dass er noch nicht lange dort sein konnte, musste ich schlucken. In diesem Dorf hatten einst ganz normale Menschen gelebt. Sie hatten hier gearbeitet, geschlafen, gelacht, geweint und Kinder gezeugt. Irgendwann waren sie weggegangen. Hatten das Dorf dem Verfall preisgegeben und anscheinend wusste bis heute niemand so recht, warum.
Ich dachte an Sam, wie er nach der Geburt Pauls rotes, zerknautschtes Gesicht mit der Boxernase betrachtet, ihm über den verbeulten, haarlosen Kopf gestrichen und mir versichert hatte, noch nie ein schöneres Kind gesehen zu haben.
Was machte ich hier? Normalerweise fühlte man sich nach einer Trennung schlecht. Man betrank sich, blieb den ganzen Tag im Bett liegen, heulte Freunde und Verwandte voll, betrank sich abends noch einmal, ließ sich mit seltsamen Typen ein. Doch
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