Zeit für Eisblumen
krallte.
„Aua! Was soll das?“
Milla stand vor mir.
„Du kommst jetzt mit!“
„Aber ich möchte eine Zugabe geben. Wie du siehst, habe ich Fans.“ Ich zeigte zum Publikum, von dem ich annahm, das es gespannt auf meine nächste Interpretation wartete, doch zu meiner großen Enttäuschung hatten sich die meisten abgewandt, unterhielten sich mit ihren Nachbarn oder kippten ihre Getränke runter.
„Nein, du kommst mit!“, beharrte Milla. „Und morgen früh wirst du mir dafür dankbar sein.“
„Na schön.“ Widerstrebend folgte ich ihr. „Aber ich war gut, findest du nicht?“
„Du bist betrunken. Und das hat man deutlich gemerkt.“
„Du bist ja nur neidisch“, entgegnete ich schnippisch und rammte einer Blondine, die mich entfernt an Monika erinnerte, meinen Ellenbogen in die Seite.
Milla seufzte. Sie zerrte mich durch die Hintertür und lehnte mich gegen eines der leeren Guinnessfässer, die sich an der Hausfassade aneinanderreihten.
„So. Und jetzt sagst du mir bitte, was mit dir los ist!“
„Gar nichts ist mit mir los“, antwortete ich trotzig.
„Doch. Denn ansonsten würdest du dich nicht so aufführen. Was sollte deine Szene im Pub vorhin? Warum bist du auf die Bühne geklettert und hast dieses Lied gesungen? Ich habe dir gesagt, dass dein Vater und ich Probleme miteinander haben, als du mich danach gefragt hast. Aber was hast du erwartet? Hätte ich dich anlügen sollen?“
„Nein.“ Ich betrachtete eingehend meine Fingernägel.
„Soll ich bei ihm bleiben, obwohl ich nicht mehr glücklich mit ihm bin? Nur damit du dich weiterhin in der Vorstellung sonnen kannst, eine intakte Familie zu haben. Mein Gott, Fee! Du bist erwachsen. Helga, Lilly und Mia sind erwachsen. Ihr seid keine kleinen Kinder mehr. Wenn dein Vater und ich getrennte Wege gehen sollten, wird es nicht das Ende der Welt für euch bedeuten, oder?“
„Du hast dich also schon entschieden. Du wirst ihn verlassen“, sagte ich resigniert.
„Nein, das habe ich nicht. Das Haus, du und deine Schwestern. Und die ganzen gemeinsamen Erinnerungen. Es ist alles nicht so einfach.“ Milla setzte sich auf ein Fass. Ich tat es ihr nach. Zusammen starrten wir in das dunkle, wispernde Nichts, das sich vor uns auftat. Es war unglaublich kalt. Ich blies mir in die klammen Finger und mein Atem bildete dabei weiße Rauchwölkchen
„Liebst du ihn noch?“, fragte ich nach einigen Minuten.
„Ich liebe ihn dafür, wie er einmal war“, erklärte Milla pragmatisch. „Liebst du Sam noch?“
„Ja“, sagte ich und war selbst überrascht über meine Antwort.
„Aber warum bist du hier in Irland und rennst diesem David hinterher?“
„Sam hat eine andere.“
„Wirklich? Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Sie klang ernsthaft erschüttert.
„Als ich in der Wohnung war, um ein paar Sachen abzuholen, haben zwei Weingläser auf dem Balkon gestanden und im Aschenbecher lagen Zigarettenstummel mit rotem Lippenstift.“
„Aber das muss nichts heißen.“
„Nein. Aber Mia und Lilly haben ihn gestern mit einer Blondine in der Stadt gesehen. Deswegen hat Mia mich angerufen.“
„Könnte es eine Kollegin gewesen sein?“, fragte Milla vorsichtig.
„Ja.“ Ich lachte humorlos auf. „Aber leider nicht seine, sondern meine.“
„Was heißt das?“ Sie runzelte die Stirn.
„Er ist jetzt mit der aufgetakelten Tussi zusammen, die mich während meines Mutterschutzes vertreten hat“, sagte ich. „Lilly hat sie erkannt. Sam hatte seinen Arm um sie gelegt und sie hatte ihre Hand in seine Gesäßtasche gesteckt.“ Ich ließ mich gegen die Hauswand sinken. „Ich habe alles falsch gemacht. Ich habe es auf der Arbeit verbockt, ich habe Sam vergrault. Und Paul bin ich keine gute Mutter.“
„Aber das stimmt nicht. Natürlich bist du das.“
„Nein, bin ich nicht. Nach der Geburt habe ich ihn nicht gewollt.“
So deutlich hatte ich es noch nie ausgesprochen. Aber jetzt, am absoluten Tiefpunkt meines Lebens angekommen, war es Zeit, reinen Tisch zu machen.
Doch Milla wollte es nicht hören. „Du hast ihn gewollt“, sagte sie sanft. „Du hattest nur eine schwere Geburt. Die Ausschabung, weil deine Plazenta sich nicht ablöste, der Blutverlust, die Brustentzündungen. Aber das hat dir der Arzt doch erklärt.“
„Oh, so verständnisvoll!“, erwiderte ich zynisch. „Während meiner Depression hat sich das alles aber ganz anders angehört. Du hast mir vorgeworfen, dass ich egoistisch bin, dass ich mich nur vor meinen
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