Zeit für Eisblumen
stürmte zurück ins Wohnzimmer.
Zum Abschied drückte sie mich an sich, sekundenlang.
„Ich bin immer für dich da. Das weißt du.“ Sie strich mir meine strähnigen Haare aus dem Gesicht und sah mich fest an. Ich nickte stumm.
Zwei Tage später fiel ich in Ohnmacht.
„Es tut mir aufrichtig leid“, wiederholte Milla noch einmal. „Aber für mich war diese Situation auch neu.“ Sie ließ den Kopf hängen und ich sah, dass Tränen in ihren Augen schimmerten.
Ach zum Teufel! Ich wurde weich. Woher hätte sie es denn auch wissen sollen? Für sie war es auch nicht leicht gewesen. Sie hatte sich wie verrückt gefreut. Endlich das erste Enkelkind. Und dann mutierte die Tochter auf einmal zum Zombie. Ich hatte ja selbst kein Verständnis für mein damaliges Verhalten, wie konnte ich es von jemand anderem erwarten?
„Du hast gedacht, dass ich dich nicht brauche, und ich dachte, dass Helga, Mia und Lilly dir viel wichtiger sind als ich. Vielleicht hätten wir dieses Gespräch schon viel früher führen sollen“, meinte ich zögernd.
„Vielleicht.“ Milla wandte mir müde das Gesicht zu.
„Ich wusste nicht, dass dir das alles so zu Herzen geht. Und auch damals schon gegangen ist. Aber weißt du, in der Pubertät war ich ein missratenes Gör und jetzt …“ Ich zuckte hilflos mit den Schultern. „Jetzt bin ich es immer noch. Aber ich verspreche dir, dass ich mich bessere. Dass ich dir Paul nicht mehr so oft aufs Auge drücke, dass ich …“
„Aber das macht doch nichts.“ Milla lächelte. „Eigentlich verbringe ich gerne Zeit mit dem kleinen Kerl.“
„Und ich werde weiterhin mit dir reden, auch wenn du dich von Papa trennen solltest.“
„Das ist sehr nobel von dir.“ Sie verzog spöttisch den Mund.
„Und ich werde dich nicht mehr wegen deiner Engel ärgern. – Jedenfalls nicht, solange sich dein Verhalten in einem akzeptablen Rahmen befindet“, fügte ich nach einigen Sekunden hinzu.
„Habe ich dir jemals gesagt, dass ich es dir verdanke, dass ich angefangen habe, mich mit Engeln zu beschäftigen?“ Milla blickte mich versonnen an.
„Nein. Ich dachte, deine Kopfschmerzen seien daran schuld gewesen“, sagte ich verblüfft. Inwiefern war es denn gerade ich gewesen, der sie spirituell inspiriert hatte?
„Als du klein warst, fünf oder sechs, hattest du häufig Angst im Dunkeln. Kannst du dich noch daran erinnern?“
„Nein.“ Aufgrund meiner beiden Nahtoderfahrungen hatte ich jetzt häufig Angst im Dunkeln, aber als ich klein war …
„Du hast geschrien. Und wenn ich zu dir kam, hast du behauptet, dass ein weißer Mann in der Ecke deines Zimmers steht.“
Der weiße Mann! Eine verschwommene Erinnerung von einer pulsierenden Lichtgestalt kroch in mir hoch. War ich es gewesen, die ihn gesehen hatte? Meine Güte, ich hatte gedacht, er wäre mir in irgendeinem Film begegnet.
„Ich bin zunächst nicht näher darauf eingegangen, ich dachte, es würde mit der Zeit vergehen, aber deine Angst ist so schlimm geworden, dass du dich geweigert hast, in deinem Zimmer zu schlafen. Irgendwann bin ich zu einer Homöopathin gegangen und habe ihr von dem weißen Mann erzählt. Ich wollte Globuli haben, Tropfen, irgendetwas, was dir deine Ängste nimmt, aber sie hat mir geraten, nicht einfach darüber hinwegzugehen, sondern deine Geschichte ernst zu nehmen. Sie meinte, dass Kinder, vor allem sehr sensible, aufgrund ihrer Unverdorbenheit einen ganz anderen Zugang zu spirituellen Wesen haben als Erwachsene. Zuerst konnte ich es auch nicht glauben, aber dann habe ich mir ein Buch gekauft, das von diesem Phänomen handelt, und dir erklärt, dass der weiße Mann dir nichts Böses will, sondern ein Schutzengel ist, der nachts über dich wacht. Von da an hattest du keine Angst mehr und irgendwann hast du ihn nicht mehr erwähnt. Ich habe auch nicht mehr daran gedacht.“
„Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Mia ausgezogen ist.“
„Genau.“
„Und du kannst diese Engel wirklich sehen?“
Milla lächelte weise. „Konntest du den weißen Mann sehen?“
„Ja, als Kind schon“, gab ich zu. Und ich war entsetzt gewesen, dass die anderen es nicht konnten. Ich hatte Helga geweckt und ihn ihr gezeigt, aber sie hatte behauptet, es sei nur der Mond, der in unser Zimmer schien. Sie hatte die Rollläden ganz geschlossen, doch das pulsierende Licht war geblieben.
Nun gut, vielleicht gab es Engel. Irgendwie war die Vorstellung, dass ein höheres Wesen über uns wachte, ja auch schön. Doch stinkende Stäbchen,
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