Zeit für Eisblumen
Pflichten als Mutter drücken will. Dass mir nur ein einziger Mensch wichtig sei. Nämlich ich selbst.“
„Aber ich war überfordert“, erwiderte Milla unglücklich. „Und mir fiel es auch schwer, zu akzeptieren, dass du Depressionen hattest. Ich konnte mich nicht in dich hineinversetzen. Paul ist so ein süßer Kerl und du hast dich darüber beschwert, dass du keinen Schlaf bekommst. Du hast schon immer viel Schlaf gebraucht. Mein Gott! Woher sollte ich wissen, dass du krank warst? Ich dachte, du wärst nur erschöpft.“
„Ach, und um mich aufzumuntern, hast du eingeräumt, dass du die Schuld an meinem mütterlichen Versagen trägst, weil du mich zu sehr bemuttert hast und ich dadurch nie gelernt habe, Verantwortung für andere zu übernehmen?“
„Das dachte ich“, verteidigte sich Milla.
„Du hast mich zu sehr bemuttert! Dass ich nicht lache“, höhnte ich. „Um Helga, Lilly und Mia hast du dich gekümmert. Sie hast du viel lieber gemocht als mich. Ich bin immer nur mitgelaufen.“
„Denkst du das?“, fragte sie erschrocken.
„Ja.“
„Aber das stimmt nicht. Warum sollte ich dich weniger lieben als deine Schwestern?“
„Helga ist die Große, Vernünftige. Die, die gut in der Schule war und sich mit sechs Jahren schon die Tagesschau angesehen hat. Mia konnte bereits kurz nach ihrer Geburt Menschen mit fünf Fingern zeichnen und Lilly war klein, lieb und verschmust und hat dir ständig Blumensträuße gepflückt. Und ich … ich war gar nichts.“
„Das ist überhaupt nicht wahr“, widersprach Milla. „Vielleicht stimmt es. Vielleicht habe ich dir weniger Aufmerksamkeit geschenkt als deinen Schwestern, aber doch nicht, weil ich dich weniger geliebt habe.“
„Sondern?“ Ich hob die Augenbrauen.
„Du warst so perfekt. Du hast in der Schule gute Noten geschrieben, die Jungs sind dir hinterhergelaufen, nach dem Abitur hast du dein Studium ohne Probleme geschafft, dieser tolle Job beim Fernsehen. Ich hatte den Eindruck, du kommst allein zurecht und brauchst mich nicht. Und wenn du jemanden gebraucht hast, bist du zu deinem Vater gegangen.“
„Ja, weil er mir zugehört hat.“
„Ich hätte dir auch zugehört. Aber in deinen Augen war ich ja die Böse, die dir verboten hat, mit dreizehn in die Disco zu gehen und dir nicht erlaubt hat, mit fünfzehn schon bei deinem Freund zu schlafen. Dein Vater war der tolle Kerl, der dich nachts um zwei noch von irgendwelchen Partys abgeholt hat und mit dir und Nina zum New-Kids-on-the-Block-Konzert gefahren ist. Selbst als du das erste Mal zum Frauenarzt musstest, wolltest du ihn dabei haben. Dass ich dir dein Essen gekocht, dein Zimmer geputzt und dafür gesorgt habe, dass du saubere Sachen im Schrank hast, das hat alles nicht gezählt. Du hast mich nie an dich herangelassen. Auch während deiner Depression konntest du nur deinen Vater in deiner Nähe ertragen.“
„Nun ja“, gab ich zu bedenken. „Er hat mir nicht das Gefühl gegeben, eine egoistische Versagerin zu sein.“
„Es war nicht richtig, wie ich mich verhalten habe“, sagte Milla matt. „Und es tut mir leid.“
Schön für sie! Ich schnaubte. Aber dafür war es jetzt zu spät. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, zu erkennen, dass mit mir etwas nicht stimmte. Schließlich war sie meine Mutter. Und ich hatte es ihr gesagt. Ihr, meiner Frauenärztin, der Hebamme, Sam, aber nur Nina hatte es gemerkt …
„Was ist mir ihr los?“, hatte sie meiner Mutter zugeflüstert, als ich ihr mit einem fleckigen Oberteil und ohne BH die Tür öffnete und ihre Umarmung nur kraftlos erwiderte.
„Ach, Fee ist nur müde“, zwitscherte Milla.
Doch Nina runzelte die Stirn. Sie versuchte tapfer, sich mit mir zu unterhalten, mir mehr als nur ein monotones Ja oder Nein oder ein gequältes Lächeln zu entlocken, sie lobte Paul überschwänglich, drückte und herzte ihn, doch als ich nach einer Stunde immer noch nur den Sekundenzeiger der Wanduhr anstarrte, zog sie meine Mutter raus in die Küche. Und obwohl die beiden sich bemühten, leise zu sprechen, konnte ich jedes Wort verstehen.
„Das sieht nicht gut aus. Sie ist ja gar nicht mehr sie selbst, das muss dir doch auch auffallen“, herrschte Nina Milla an.
„Sie hat gerade ein Kind bekommen. Sie ist müde und sie bekommt zu wenig Schlaf“, widersprach meine Mutter. „Aber jetzt, wo du da bist, geht es ihr schon viel besser. Sie braucht eine Freundin zum Reden, mehr nicht.“
„Du willst es einfach nicht sehen, oder?“, sagte Nina und
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