Zeit für mich und Zeit für dich
wohlhabendes Viertel.
Leider flossen die Einnahmen nicht wie erwartet, und unsere Schulden stiegen noch mehr.
Es war mitten im Schuljahr, deshalb blieben wir noch ein paar Monate in unserer alten Wohnung und zogen erst um, als ich in die dritte Klasse kam. Die neue Schule war schöner und sauberer, und die Heizung funktionierte im Winter immer einwandfrei. Ich musste nicht mehr, wie in der alten Schule, den Schlafanzug unter meiner Kleidung anbehalten.
Als mein Vater noch bis spät in die Nacht arbeiten musste, in der alten Bar, verbrachte ich die Abende meist allein mit meiner Mutter. Oft fragte ich sie, ob ich bei ihr im Bett schlafen dürfe, und sie erlaubte es. Ich schlief neben meiner Mutter ein und wachte in meinem eigenen Bett wieder auf. Mein Vater hatte mich in mein Zimmer getragen, als er nach Hause kam. Fast jede Nacht ging das so.
Durch die Abende zu zweit mit meiner Mutter fühlte ich mich wie der Mann im Haus, der einzige Mann an ihrer Seite. Als mein Vater die neue Bar übernahm, [38] verbrachte er auf einmal die Abende mit uns und wurde für mich zu einer Art Rivale, der mir die Frau wegnahm, die ich liebte. Abends saßen wir zu dritt am Abendbrottisch. Eigentlich war ich glücklich, dass er auch da war, aber ich vermisste es, neben meiner Mutter einzuschlafen, ich fühlte mich wie weggeschoben, in die Ecke gestellt. Ich fand es ungerecht. Er hatte sich einfach zwischen mich und meine Mutter gedrängt. Für mich allein hatte ich sie nur noch, wenn wir früher nach Hause gingen, um das Abendessen vorzubereiten. Ich half ihr gern dabei. Sie kochte, und ich deckte den Tisch. Sie musste mich nicht einmal darum bitten, ich wusste, dass das meine Aufgabe war.
Eines Tages belauschte ich meine Eltern, wie sie darüber sprachen, dass mit Beginn des neuen Schuljahrs weitere Ausgaben auf sie zukämen und sie nicht wüssten, woher sie das Geld dafür nehmen sollten. Ranzen, Mäppchen, Hefte, Bücher… und in meinem Kopf setzte sich der Gedanke fest, dass ich eine Last war, der Grund für all unsere Schwierigkeiten.
Neue Schulbücher gab es nie. Wir kauften sie gebraucht an Bücherständen oder gleich von anderen Leuten. Von Familien, die mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten wie wir. Unter den Augen einer anderen Mutter blätterte meine Mama in den Lehrmitteln herum, ehe man sich auf einen Preis einigte, eher gezwungen, sich entgegenzukommen, als ein gutes Geschäft zu machen.
Bevor die Schule begann, kaufte meine Mutter einfarbige Plastikfolie und schlug die Bücher darin ein. Von außen sahen sie alle gleich aus. Damit ich sie [39] auseinanderhalten konnte, klebte ich Etiketten auf und schrieb die jeweiligen Fächer darauf: GESCHICHTE, MATHEMATIK, ERDKUNDE . Wenn ich ein Buch benötigte, das wir nicht gebraucht bekamen und neu kaufen mussten, dann musste ich sehr sorgsam damit umgehen. Unterstreichen durfte ich nur mit Bleistift. Manchmal ging eins meiner Bücher aus zweiter oder dritter Hand im Lauf des Schuljahrs aus dem Leim, und bis meine Mutter sie wieder zusammengeklebt hatte, ging ich mit einem Buch ohne Deckel zur Schule, so dass man gleich die erste Seite sah. Dann rüffelte mich die Lehrerin: »Wie gehst du bloß mit deinen Büchern um!«
Sie mochte mich nicht. Den Grund dafür habe ich nie herausgefunden, vielleicht einfach, weil ich arm war. Armut stößt manche Leute ab wie eine ansteckende Krankheit. Ich fühlte mich nicht akzeptiert, nicht gut gelitten, nicht dazugehörig, und ich begriff nicht, warum. Ich flüchtete mich in Tagträumereien, war abgelenkt und folgte dem Unterricht nicht mehr. Auch dass ich die ganze Zeit stillsitzen und mir Dinge anhören sollte, die mich nicht interessierten, verführte mich zum Träumen. Den ganzen Vormittag lang schaute ich aus dem Fenster auf den Ast eines Baums, der bis hinauf an unser Klassenzimmerfenster reichte, und stellte mir vor, wie ich über diesen Ast floh. Ich erfand Geschichten, in denen ich um die Welt reiste. Ich träumte davon, rauszukommen und zu spielen, Menschen zu begegnen, mit meinem Schiff ferne Länder zu entdecken. Immerzu fragte ich mich, wie wohl die Welt außerhalb der Schule am Vormittag sein mochte. Ich kannte sie ja nur am [40] Nachmittag. Ich träumte davon, mir das Vormittagsleben, das die Schule mir raubte, zurückzuerobern.
Die Angewohnheit, aus dem Fenster zu schauen und vor mich hin zu träumen, habe ich noch immer: In Konferenzen muss ich manchmal aufstehen und nach draußen schauen. Langes
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