Zeit für mich und Zeit für dich
überhaupt Bedeutung beizumessen. Darum sage ich, dass er nie wirklich gelebt hat. Weil er dem Leben immer ausgewichen ist.
Vielleicht konnte ich mir deshalb nicht vorstellen, dass auch er Wünsche, Ängste und Träume hatte. Mehr noch, während ich heranwuchs, war er für mich nicht einmal ein Mensch: Er war einfach mein Vater, so als würde das eine das andere ausschließen. Ich wurde erwachsen, und als ich für eine Weile vergaß, dass ich sein Sohn war, begriff ich, wie er wirklich war, ich lernte ihn kennen. Wäre ich nur schon als Kind erwachsen gewesen, dann hätte ich mit ihm von Mann zu Mann sprechen können, und wir hätten vielleicht gemeinsam einen anderen Weg eingeschlagen. Heute, da ich ihn besser verstehe, habe ich das Gefühl, zu spät zu kommen. Nicht mehr viel Zeit zu haben.
Heute, da bin ich mir sicher, weiß ich Dinge über ihn, die er selbst nicht einmal für möglich hält. Ich habe gelernt, das zu sehen und zu verstehen, was er in sich verbirgt, was er nicht nach außen hin zeigen kann.
Jahrelang habe ich versucht, die Liebe dieses Mannes zu gewinnen, aber auf die falsche Art und Weise. Was ich suchte, war bei ihm nicht zu finden. Ich sah nicht, und ich verstand nicht, und dafür schäme ich mich heute ein wenig. Die Liebe, die er mir gab, steckte in seinen Opfern, den Entbehrungen, den endlosen Stunden der [13] Arbeit und in seiner Bereitschaft, die ganze Verantwortung zu schultern. Vielleicht hatte er sich nicht einmal bewusst dafür entschieden, er lebte nur so, wie alle vor ihm gelebt hatten. Mein Vater gehört einer Generation an, die einfach gewisse Erwartungen zu erfüllen hatte: heiraten, Kinder zeugen, für die Familie arbeiten. Darüber hinaus machte man sich keine Gedanken, die Rollen waren festgelegt. Kann sein, dass er geheiratet und einen Sohn gezeugt hat, ohne es sich je wirklich gewünscht zu haben. Ich bin der Sohn eines Mannes, den das Leben zu den Waffen rief, um einen privaten Krieg zu führen: zum Schutz der Familie. Einen Krieg, den man nicht führt, um zu gewinnen, sondern um ein Soll zu erfüllen, um zu überleben, sich durchzuschlagen.
Ich liebe meinen Vater mit jeder Faser meines Herzens. Ich liebe diesen Mann, der früher nie genau wusste, wie alt ich gerade war.
Ich liebe diesen Mann, der es noch heute nicht fertigbringt, mich zu umarmen, der mir auch heute noch nicht sagen kann: »Ich hab dich lieb.«
Darin sind wir uns gleich. Ich bin ein gelehriger Schüler. Ich kann das genauso wenig.
[14] Der kaputte Rollladen
Meine Familie war arm. Armut, das ist für mich wie an einem gedeckten Tisch zu sitzen und keine Hände zu haben.
Es war nicht jene telegene Art von Armut, wie sie oft im Fernsehen gezeigt wird: Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben und Hunger leiden. Unsere Armut war anders: Man hat zu essen und ein Dach über dem Kopf, besitzt einen Fernseher, ein Auto. So dass man gerade noch verhehlen kann, dass man arm ist. Eine Armut voller Gegenstände, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Wer in dieser Art von Armut lebt, hat zugleich Glück und Pech: Es gibt Leute, denen es bessergeht, und andere, denen es schlechtergeht. Und doch bedeutet diese Armut Scham, Schuldgefühl, ständige Einschränkung, Angst und vor allem Unsicherheit, unterdrückte Wut, ein stets gesenkter Kopf. Man ist nicht so arm, dass man keine Kleider am Leib hätte, aber man fühlt sich in diesen Kleidern nackt, sie verraten einen. Ein Flicken genügt, und jeder weiß, was für einer du bist. Diese Armut hält das Gehirn so besetzt, dass darin kein Platz für anderes bleibt, vor allem nicht für irgendeine Art von Schönheit. Schönheit ist ja nicht funktional, nicht nützlich.
[15] Du lebst ein Leben, das in den Augen der anderen ganz normal aussieht, doch in Wirklichkeit bist du einem anderen Gesetz unterworfen, dem Gesetz der Entbehrungen. Und ganz allmählich lernst du zu lügen. Mal sind es größere, mal kleinere Lügen. Wenn das Telefon gesperrt wurde, sagst du, es sei kaputt, und zum Abendessen kommst du nicht mit, weil du angeblich anderweitig verpflichtet bist oder jemandem dein Auto geliehen hast; dabei hast du in Wahrheit die Versicherung nicht bezahlt oder kein Geld für Benzin.
Du wirst zum Experten in der Kunst des Lügens, und vor allem lernst du, dir zu behelfen, lernst reparieren, ausbessern, kleben und nageln. Da ist der kaputte Rollladen, der heruntersaust wie eine Guillotine und nur oben bleibt, wenn du ein Stück Pappe unter den Riemen klemmst.
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