Zeit für mich und Zeit für dich
Sitzen halte ich einfach nicht aus.
Eins habe ich jedenfalls von jener Lehrerin gelernt: zu hassen. Vorher hatte ich noch nie jemanden gehasst. Mit ihren Demütigungen hat sie es mir beigebracht. Mein Körper begann zu rebellieren: In der Schule bekam ich schreckliche Bauchkrämpfe, die erst aufhörten, wenn meine Mutter kam und mich abholte.
Ich versuchte die Lehrerin deshalb auch immer wieder zu ärgern. Zum Beispiel legte ich mein Heft beim Schreiben im Unterschied zu meinen Mitschülern so vor mich hin, dass ich nicht von links nach rechts, sondern von unten nach oben schreiben und mich dabei auch noch zur Seite drehen musste. Mehrmals versuchte sie mich »zurechtzubiegen«, aber ich hielt dagegen. Schließlich gab sie es auf, zumal meine Schrift wirklich schön war. Durch meine Haltung beim Schreiben waren die Buchstaben, vor allem die großen, nach vorn geneigt, wie Baumwipfel im Wind. Noch heute schreibe ich so.
Außerdem weigerte ich mich zu lernen. Meiner Mutter war nur wichtig, dass ich artig war. Gutes Benehmen war für sie alles. Aus Rücksicht auf die Nachbarn lief der Fernseher immer nur leise. Immer grüßte sie alle und jeden, sogar Leute, die nie zurückgrüßten. Ich hab die guten Manieren so eingebleut bekommen, dass ich [41] der Stewardess, die mir bei meinem ersten Flug Kaffee anbot, antwortete: »Oh, wenn Sie sich grad welchen kochen, nähme ich auch gern ein Tässchen!«
Da wir uns keinen Familienurlaub leisten konnten, schickten meine Eltern mich manchmal in ein Ferienlager. Dann stickte meine Mutter vorher auf alle meine Kleidungsstücke einschließlich Unterhosen, Socken und Handtücher meine Initialen.
Im Ferienlager küsste ich auch zum allerersten Mal ein Mädchen, Luciana. Meine eindringlichste Erinnerung an dieses Lager ist allerdings weniger romantisch, leider. Ich hatte mit Piero Streit und piesackte ihn, bis er schließlich rief: »Ach, halt die Klappe! Du bist doch nur hier, weil Don Luigi für dich bezahlt hat.«
»Stimmt gar nicht!«, schrie ich.
»Doch! Meine Mutter hat’s mir gesagt, und die muss es ja wissen, die hat nämlich das Geld für dich gesammelt… also hat die Kirche für dich bezahlt und nicht du.«
Ich sprang ihm an die Gurgel und schlug heulend auf ihn ein, bis uns jemand trennte und ich davonrannte. Später kam Don Luigi zu mir. Ich fühlte mich elend, hatte das Gefühl, dass alle Bescheid wussten und mich komisch ansahen.
Eigentlich wusste ich längst, dass meine Familie anders war als die anderen. Solange man bei sich zu Hause ist, merkt man es nicht so. Dass man arm ist, fällt erst im Vergleich mit anderen auf, in der Schule zum Beispiel, und nicht nur wegen der gebrauchten Bücher: Ich hatte auch keinen Ranzen mit den neuesten [42] Zeichentrickfiguren drauf; meine Hefte hatten alle die gleiche Farbe, weil mein Vater sie in demselben Großhandel besorgte, in dem er auch die Sachen für die Bar einkaufte; und mein Mäppchen hatte meine Mutter aus Jeansresten selbst genäht…
Die Situation meiner Familie erschien mir wie eine Krankheit, wie eine Strafe Gottes. Als Don Luigi in der Sonntagspredigt über Pontius Pilatus und dessen Ausspruch »Ich wasche meine Hände in Unschuld« sprach, dachte ich unwillkürlich, dass Gott mit meiner Familie genauso verfuhr wie Pontius Pilatus mit Jesus.
Damals trug ich nur Kleidung, die andere schon getragen hatten: Cousins, Kinder von Nachbarn oder Freunden. Eines Sonntags gingen wir zum Essen zu meiner Tante, der Schwester meiner Mutter. Als mein Cousin, der zwei Jahre älter ist als ich, mich sah, erkannte er sofort den Pullover wieder, den ich trug. Es war seiner gewesen, und obwohl er ihn eigentlich schon längst vergessen hatte, wollte er ihn jetzt natürlich unbedingt wiederhaben, weil ich ihn hatte. »Gib her, der gehört mir!«, brüllte er und begann an meinem Pulli zu zerren, als wollte er ihn mir vom Leib reißen. »Du hast ihn mir gestohlen!«
Ich wusste nicht, dass der Pulli vorher ihm gehört hatte, und verstand erst gar nicht, was er wollte. Jedenfalls kehrte ich ohne den Pulli nach Hause zurück, und ich habe nicht geweint. Als aber derselbe Cousin einmal zu mir sagte, ich sei adoptiert und meine Mama sei gar nicht meine richtige Mama, da habe ich geweint.
Was das Einkaufen anging, war meine Mutter [43] umsichtig und mit allem sehr sparsam. Als Betreiber einer Bar bekamen wir viele Lebensmittel billiger. Dafür gab es bei uns alles nur in gigantischen Mengen: Fünfkilodosen mit Thunfisch,
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