Zeit für Plan B
Das Wetter passte sich der Stimmung an, in der wir uns befanden, mit dichten grauen Sturmwolken, die den Himmel völlig verdeckten. »Es ist nur, man bemüht sich so sehr, alles richtig zu machen, wisst ihr?«, sagte ich. »Sein Leben an jenen Punkt zu bringen, den man sich im Kopf vorgestellt hat, und sich zu sagen, wenn ich es bis dorthin schaffe, dann werde ich glücklich sein. Ihr werft mir alle vor, dass ich in der Vergangenheit lebe, aber die Wahrheit ist, dass ich dreißig Jahre alt bin und noch immer erwarte, dass die Zukunft mir irgendwann aus der Patsche hilft. Und das ist Blödsinn. Man kann über Jahre hinweg auf irgendetwas hinarbeiten und dann sterben, bevor man es erreicht hat, also was soll das alles dann?«
»Weil du es vermutlich nicht tun wirst«, fauchte Lindsey mich an. »Die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich groß, dass du neunzig werden wirst, was eine ziemlich lange Zeit ist, um sie unglücklich zu verbringen. Peter Miller ist vielleicht tot, aber sieh dir doch bloß an, auf wie viele Leute er eingewirkt hat, bevor er gestorben ist. Er hatin der Gegenwart gelebt. Du machst dir Sorgen, dass du deine Zeit mit dem Versuch verschwenden könntest, etwas zu erreichen, wenn du doch schon morgen sterben könntest. Du solltest dich darum kümmern, dass du dein Leben so rasch wie möglich auf die Reihe bekommst, damit du, falls du jung sterben solltest, wenigstens gelebt hast. Du bist jung, du bist gesund …«
»Gesundheit«, sagte ich, »ist lediglich die langsamste Methode zu sterben.«
Lindsey drehte sich auf ihrem Sitz um und funkelte mich böse an. »Halt den Mund, Ben«, sagte sie. Ich tat es, für eine Minute.
»Ich gebe dir ja recht«, sagte ich versöhnlich. »Es ist nur, du weißt schon, ich musste einfach über ihn nachdenken. Er war nur sechs oder sieben Jahre älter als ich, und sieh doch bloß, was er alles für sich aufzuweisen hatte, all die Menschen, denen er etwas bedeutete, die ihn vermissen werden. Wenn ich morgen sterbe, ich glaube, dann könnte ich keine drei Reihen in der Kirche füllen.«
»Na ja, du bist ja auch jüdisch«, sagte Alison lächelnd.
»Du weißt, was ich meine.«
Ohne sich umzuwenden, streckte Lindsey eine Hand nach hinten aus und griff nach meiner. »Na ja«, sagte sie. »Ich denke, du kannst einfach noch nicht sterben.« Ich hielt Lindseys Hand fest und fragte mich, ob die sanften Schwingungen, die ich in unseren aneinanderliegenden Handflächen verspürte, aus unserem Inneren kamen oder ob es die Welt war, die zitterte, während wir uns völlig still verhielten.
In der Stadt legten wir einen kurzen Zwischenstopp ein, um unsere Essensvorräte aufzustocken und eine Zeitung zu kaufen. Es überraschte mich, dass es in keinem der stummen Zeitungsverkäufer
The New York Times
gab. Lindsey sagte, alle New Yorker würden denselben Fehler begehen, anzunehmen, dass New York Amerika sei, was schon ironisch ist, wenn man einen Blick auf die Landkarte wirft.Wir entschieden uns für eine
USA Today
. Der Artikel über Jack war dankenswerterweise kurz, irgendetwas zwischen einem Artikel und einer Randnotiz. Jack Shaw galt als vermisst, die Polizei war beunruhigt, aber niemand ging von einem Gewaltverbrechen aus.
Kurz nachdem wir von der Beerdigung zurückkamen, warf ich in der Auffahrt Körbe, als Jeremy aus seinem Haus kam, um mit Taz rauszugehen. Nach den vielen Autos zu urteilen, die in der Auffahrt der Millers und auf der Straße vor dem Haus parkten, war immer noch eine große Trauergesellschaft versammelt. Jeremy trug immer noch Anzug und Krawatte, wodurch er, zusammen mit der feierlichen Miene und dem sorgfältig gekämmten Haar, aussah wie ein trauriger kleiner Mann. Ich fühlte mich immer schon auf eine unbeholfene Weise außerstande, mit Trauernden umzugehen oder auch nur Blickkontakt zu ihnen aufzunehmen, als würde alles, was ich sagte oder tat, ein Eingriff in ihre persönliche, schmerzliche Erfahrung sein. Also lächelte ich Jeremy nur kurz zu und wandte mich dann rasch um, um meinen eigenen Rebound aufzufangen. Der Himmel sah noch immer bedrohlich aus, von dunklen Wolken verhangen, und die Luft war erfüllt von dem schweren Versprechen eines Gewitters, doch der Regen ließ noch auf sich warten.
»Ich habe dich heute bei der Beerdigung gesehen«, sagte Jeremy.
»Ja.«
»Warum bist du hingegangen?«, fragte er. »Du hast meinen Dad doch gar nicht gekannt.«
»Das stimmt«, sagte ich. »Aber weißt du, bei einer Beerdigung geht es nicht nur um den
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