Zeit für Plan B
verspürte ich etwas, was ganz entfernt vielleicht eine Art Neid war, aber mein Unterbewusstsein verbannte dieses Gefühl rasch, bevor ich mich seiner schämen konnte.
»Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts fehlen«, begann der Pfarrer. Unwillkürlich sah ich, dass genau über dem Podium ein großes, dunkelblaues Banner mit einem Basketball hing, auf dem stand: »Carmelina Jaguars, 1998 State Champions.« Dann hielt der Pfarrer einen Augenblick inne und ließ seine Blicke durch die Aula schweifen, als versuchte er, zu jedem Einzelnen der Anwesenden Blickkontakt aufzunehmen. »Dieser Psalm Davids wird uns bei jeder Beerdigung vorgelesen«, fuhr der Pfarrer fort. »Er ist ein Psalm des Trostes, vielleicht aufgrund seiner bildhaften Sprache, vielleicht aber auch aufgrund seiner Vertrautheit. Indem wir diese vertrauten Worte bei Beerdigungen immer und immer wieder hören, erkennen wir, dass auch der Tod ein vertrautes Ereignis ist. Auch wenn er vielleicht tragisch ist, so ist er doch ein natürlicher Bestandteil des Lebens, und wir erkennen ihn als einen solchen an.«
Wieder hielt er einen Augenblick inne und starrte mit bedeutungsvollem Blick auf die erste Reihe, wo die Familienangehörigen Platz genommen hatten. »Aber wenn ich heute diesen Psalm lese, dann werde ich ihn nicht weiter als bis zu dieser ersten Zeile lesen. Denn ich glaube, dass genau dort, im allerersten Satz, ein Wort steht, das mir alles sagt, was ich über Peter Miller hören muss. ›Der Herr ist mein Hirte.‹Das stimmt. Aber es ist ein Anthropomorphismus, eine Personifizierung des Herrn. Eine menschliche Eigenschaft wird hier Gott zugeschrieben. Wir tun dies in einem Versuch, das göttliche Handeln des Herrn näher zu bestimmen, es irgendwie in eine Kategorie einzuordnen, die wir begreifen können. Und nun behaupte ich vor Ihnen, Peter Miller war ein Hirte, hier auf unserem Feld, und wenn ich ihn einen Hirten nenne, dann beziehe ich mich damit auf genau jene menschlichen Tugenden und Eigenschaften, die David dem Herrn zuschrieb, als er diesen Psalm verfasste.
Peter kümmerte sich um unsere kostbarste Herde, unsere Kinder. Wie jeder seiner Schüler und alle Eltern bezeugen können, warer so viel mehr als nur ein Englischlehrer. Für die Schüler der Volksschule Carmelina war er ein Magnet, der ihnen seine Liebe gab, seine Energie, seine Begeisterung und seine Zeit, weitaus mehr Zeit, als es die Pflicht von ihm verlangte. Als Aushilfslehrer hier an dieser Schule habe ich das Privileg genossen, mit Peter zusammenzuarbeiten, und ich kann mich nicht erinnern, dass er auch nur ein einziges Mal allein durch die Gänge dieser Schule schritt. Die Kinder strömten in Scharen zu ihm, ihrem Hirten, seiner Hilfsbereitschaft, seines Humors, seiner Kameradschaft wegen. Er gab jedem einzelnen Kind das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, und ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die Kinder die charakteristischen Spitznamen, die er möglichst vielen von ihnen gab, sehr zu schätzen wussten.« An dieser Stelle ging ein leises Murmeln durch die Reihen der Anwesenden, und als ich mich umblickte, sah ich, dass etliche Leute bei dieser Anspielung lächelten. »Wenn Peter einem Kind einen Spitznamen gab, dann konnte sich dieses Kind sicher sein, dass es seinen Platz in der Schule hatte, dass es in der schützenden Obhut des Hirten geborgen war, und seine Eltern wussten, dass der Beste von allen sich um die Herde ihrer Kinder kümmerte.«
Ich starrte auf den Sarg und versuchte, mir im Geist ein Bild von dem Mann zu machen, der da beschrieben wurde. Nach dem Schniefen und Schluchzen zu urteilen, das ich überall, wohin ich auch sah, bemerkte, trafen die Worte des Pfarrers genau den richtigen Ton. Ich sah zu Alison hoch, die leise weinte und sich alle paar Sekunden mit einem Taschentuch die Augen abtupfte, und zu Lindsey, die gebannt auf Jeremy und Melody Miller starrte.
»Wenn ich an Hirten denke, so denke ich an Moses«, fuhr der Pfarrer fort, »der die Israeliten aus der Sklaverei und ins Gelobte Land führte. Als junger Mann wuchs Moses als ägyptischer Prinz auf, doch im geschäftigen Treiben der Großstadt konnte er keinen Frieden finden. Stattdessen floh er aus Ägypten und wurde Hirte inMidian. Erst dort, während er sich auf den Feldern um seine Herde kümmerte, konnte Moses Gott schließlich finden, als er ihm im brennenden Dornbusch erschien. Unser Peter, der in Manhattan geboren wurde und aufwuchs, verspürte dasselbe Bedürfnis, der Großstadt zu
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