Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Fall gibt es nur eines: Freispruch.«
Im Rahmen der Entgegnungen am 3. Dezember bekam jeder Anwalt eine halbe Stunde, um etwas auf die während der vergangenen zwei Wochen vorgetragenen Argumente zu erwidern. Maria sprach für mich und kritisierte Mignini, weil er Meredith als Heilige und mich als Teufelin dargestellt hatte. In Wirklichkeit, sagte sie, hätten wir ein sehr ähnliches Leben geführt. Meredith habe lockere sexuelle Beziehungen gehabt, genau wie ich. Meredith habe ernsthaft studieren und sich verantwortungsbewusst verhalten wollen, genau wie ich.
Mignini unterstellte mir weiterhin, ich hätte eine lockere Moral. Er begnügte sich nicht mit den Zeugenaussagen, sondern brachte darüber hinaus auch noch seine eigenen Beispiele an. In einem letzten Anschlag auf meinen Ruf sagte er, es sei wahrscheinlich, dass ich Rudy getroffen und mich für die eine Stunde in der Nacht des 1. November, in der Raffaele mit seiner Freundin Joanna Popovic zum Busbahnhof hatte fahren wollen, mit ihm verabredet hatte. Ich hätte mich mit einem anderen Jungen amüsieren wollen – eine »nicht unwillkommene Ablenkung«.
»Amanda war – sagen wir – ein bisschen sehr kontaktfreudig. Sie hatte Merediths Vorwürfe satt. Meredith sprach zweifellos auch davon, dass man seinem Freund treu sein müsse. Sie war wirklich eine außergewöhnlich rechtschaffene junge Frau.«
Mignini hat nicht die mindeste Ahnung, wer Meredith und ich sind .
»Ich habe mich gefragt, ob wir einem Staatsanwalt, einem Rechtsanwalt oder einem Moralisten zugehört haben«, machte sich Maria für die Frauen in aller Welt stark. »Wer sind Sie, dass Sie im Namen einer Frau die Behauptung aufstellen, es sähe einer Frau so ähnlich, einer anderen an die Kehle zu gehen?«
Dann ergriffen Raffaele und ich zum letzten Mal das Wort. Raffaele sagte, dass er niemals jemanden verletzen würde. Dass er keinen Grund dazu hatte. Dass er nichts tun würde, nur weil ich es ihm gesagt hätte.
Ich hatte mir auf meinem Bett stundenlang Notizen gemacht, was ich sagen wollte, doch sobald ich aufstand, entschwand jedes Wort aus meinem Gehirn. Ich musste damit vorliebnehmen, was mir gerade in den Sinn kam, auf Grundlage der Notizen, die ich vorbereitet hatte.
»Man hat mir folgende Frage gestellt: Wie schaffst du es bloß, so ruhig zu bleiben? Zuallererst: Ich bin nicht ruhig. Ich habe Angst davor, mich zu verlieren – Angst, als jemand definiert zu werden, der ich nicht bin, und zwar anhand von Handlungen, die ich nicht begangen habe. Ich fürchte mich davor, dass mir die Maske einer Mörderin aufgezwungen wird.
Ich fühle mich Ihnen verbundener, fühle mich verwundbarer vor Ihnen, habe aber auch volles Vertrauen und ein reines Gewissen. Dafür danke ich Ihnen … Ich danke der Anklage, weil sie ihren Job zu machen versucht, selbst wenn sie nichts versteht, selbst wenn sie außerstande ist zu verstehen, denn sie versucht, nach einer Tat, die einen Menschen aus dieser Welt gerissen hat, Gerechtigkeit zu üben. Also danke ich ihr für ihre Arbeit … Jetzt ist es an Ihnen. Also danke ich Ihnen.«
Meine Worte waren so unzulänglich. Aber zumindest dachte ich daran, dem Gericht noch einmal zu danken. Nun musste ich mein Vertrauen in das setzen, was meine Anwälte, unsere Experten und ich Monat für Monat gesagt hatten. Ich musste daran glauben, dass es gut genug war.
Als ich an diesem Nachmittag ins Gefängnis zurückkam, besuchte ich Don Saulo.
»Ich bin voller Hoffnung«, sagte ich. »Ich glaube, alles wird gut ausgehen. Der Wind hat gedreht. Es ist klar, dass die Beweise gegen mich unzuverlässig sind. Viele Leute unterstützen mich. Aber warum fühle ich mich dann, als würde ich bald hingerichtet?«
Am letzten Morgen war ich froh über die halbstündige Fahrt mit dem Gefangenentransporter vom Gefängnis zum Gericht in der Innenstadt. Dadurch hatte ich etwas zu tun. Und obwohl ich das Gefängnis unmittelbar nach dem Urteil verlassen würde, freute ich mich, dass ich im Gerichtssaal kurz mit meinen Angehörigen zusammen sein konnte, bevor wir getrennt auf das Urteil warten mussten.
Richter Massei brauchte ungefähr eine Minute, um den Prozess formell für beendet zu erklären. Für die Richter und Schöffen war die Zeit gekommen zu entscheiden, wem sie glaubten. Sie gingen im Gänsemarsch durch die Tür zum Amtszimmer des Richters im vorderen Teil des Gerichtssaals. Ich starrte die Tür an, nachdem sie sich geschlossen hatte, und wünschte, ich wüsste, was dahinter
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