Zeit, gehört zu werden (German Edition)
schrien, ich wisse, wer der Mörder sei; ich müsse mich daran erinnern, dass ich an jenem Abend weggegangen sei, um mich mit Patrick zu treffen. Sie redeten mir ein, ich hätte eine von einem Trauma ausgelöste Amnesie. Sie bedrohten mich, falls ich den Namen des Mörders nicht nennen würde – obwohl ich gesagt hatte, ich wisse nicht, wer der Mörder sei! Wieso ist das KEINE Suggestion? Wieso ist das KEIN Zwang?
Migninis Tirade dauerte einen ganzen Tag, von neun Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags. Auf dem Rückweg nach Capanne fühlte ich mich, als wäre ich mit einem Hammer geschlagen worden. Aber ich hatte überlebt. Ich sagte mir noch einmal den Kinderspruch vor, den meine Mutter immer zitiert hatte: »Worte tun mir nicht weh.« Ich wünschte, das stimmte.
Am nächsten Tag sprach Manuela Comodi, die stellvertretende Staatsanwältin. Sie redete über das forensische Beweismaterial, als wäre jedes Element ein sorgsam eingefügter Mauerstein. Sie passten alle zusammen. Comodi hatte ein Ziegelhaus errichtet, das unsere Schuld bewies. Wir hörten zum zigsten Mal, dass Stefanoni recht habe und unsere forensischen Experten voreingenommen seien. Dann führte sie ein neues Motiv ein – eigentlich eher ein Nicht-Motiv –, eine Art Allzweck-Erklärung für jeden, der Migninis sich im Kreis drehende Motive in Zweifel zog. Sie straffte die Schultern und erklärte den Schöffen: »Wir leben in einer Zeit, in der Gewalt sinnlos ist.«
Anschließend betete Comodi nach, was Mignini bereits gesagt hatte: Man könne durchaus annehmen, dass Raffaele ein Taschenmesser mitgebracht und Meredith damit am Hals verletzt habe, um ihr Angst einzujagen.
Dann ließ die Anklage das Licht ausschalten.
»Ich möchte dem Gericht ein visuelles Requisit zeigen, das wir angefertigt haben, um unsere Mordtheorie zu demonstrieren«, sagte Comodi.
Das war der Auftakt zum surrealsten Moment dieses albtraumhaften Prozesses: eine computergenerierte 3-D-Animation mit Avataren, die mich, Raffaele, Rudy Guede und Meredith darstellten.
Carlo und Luciano platzten beinahe vor Wut. Mit lauter Stimme brachten sie ihre Einsprüche vor und erklärten mit Nachdruck, dass der Film unnötig und hetzerisch sei.
Richter Massei ließ ihn zu. Ich sah ihn mir nicht an, aber meine Anwälte sagten, mein Avatar habe eine gestreifte Bluse angehabt, wie ich sie oftmals im Gericht getragen hatte. Raffaele, Guede und ich wurden mit einem höhnischen Grinsen im Gesicht dargestellt. Merediths Avatar trug eine Miene voller Schrecken und Schmerzen zur Schau. In dem Trickfilm wurden echte Tatort-Fotos verwendet, um die Blutspritzer in Merediths Zimmer zu zeigen.
Die Animation veranschaulichte die Hypothese der Anklage: Raffaele und ich verlassen seine Wohnung und sitzen beim Basketballplatz auf der Piazza Grimana, ich streite mich im Haus mit Meredith, wir drei greifen sie an.
Ich hielt den Kopf gesenkt und den Blick auf den Tisch gerichtet, aber in meinem Magen brodelte es. Im Gerichtssaal war es auf einmal heiß. Ich kochte vor Zorn und war den Tränen nahe.
Wieso dürfen die sich zusammenfantasieren, was geschehen ist? Ich versuchte, Comodis Stimme auszublenden, als sie das erfundene Ereignis schilderte.
Da der Trickfilm nicht als Beweismittel eingebracht werden konnte, sah ihn niemand außerhalb des Gerichtssaals. Aber die Anklage hatte ihr Ziel erreicht. Sie hatte ein Bild in die Köpfe der Richter und Schöffen eingepflanzt.
Als das Licht wieder anging, schloss Comodi mit einer unverblümten Aufforderung: Verurteilen Sie Amanda und Raffaele zu einer lebenslänglichen Haftstrafe.
Auf Comodi folgte Patricks Zivilanwalt, Carlo Pacelli. Im Gegensatz zu Patrick, dessen Aussage fair gewesen war, nahm Pacelli mich gnadenlos auseinander.
»Wer ist Amanda Knox? Die Amanda, die skrupellos lügt und verleumdet, hübsch, intelligent, gerissen und listig – so vor allem erscheint sie vor Ihnen, und so ist sie in über vierzig Verhandlungstagen vor Ihnen erschienen: sehr feminin, süß, bezaubernd, helle Haut, blaue Augen, schlicht, nett, naiv, frisches Gesicht, mit einer Familie, die sie unterstützt, und Eltern, die trotz ihrer Trennung liebevoll und zärtlich sind.
Ist Amanda Knox die Tochter, die sich jeder wünscht? Die Freundin, die jeder gern kennenlernen würde? Ja. Großartig. Der Anwalt der Verteidigung sagt, Amanda sei genau so, wie Sie sie heute sehen, in diesem Gerichtssaal, so, wie sie erscheint. Genau so sei sie. Aber die Angeklagte, die Sie sehen, Euer
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