Zeit, gehört zu werden (German Edition)
ungemacht lassen. Das bringt Glück! Es bedeutet, dass du nicht zurückkommst.«
Ich schlüpfte rasch in meine Schuhe, schaute mich noch einmal um und ging hinaus. Meine Zellengenossinnen standen am cancello und schauten mir nach, während ich den Gang entlangging.
Es war surreal, das Gefängnisgebäude um diese Zeit zu verlassen. Seit meiner Verhaftung war ich nur an Verhandlungstagen nach drei Uhr nachmittags – dem Ende des passeggio – draußen gewesen. Selbst dann war ich normalerweise vor Einbruch der Dunkelheit wieder in meine Zelle zurückgekehrt. Nur durch mein Fenster hatte ich die Nachtluft gespürt und den Mond gesehen.
Es war feucht und eiskalt. Der Vollmond verbarg sich im Nebel.
Dies ist das letzte Mal, dachte ich, als ich in den Gefangenentransporter stieg und darauf wartete, dass die Wärterinnen erst das Gitter und dann die Doppeltür hinten schlossen. Nach Dutzenden dieser Fahrten schenkte ich der Routine keine Aufmerksamkeit mehr. Doch an diesem Abend hatte ich das Gefühl, als müsste ich sie zur Kenntnis nehmen. Das war’s! Nie wieder! Ich würde in einem Streifenwagen nach Capanne zurückkommen, um meine Sachen zu holen.
Mein Herz klopfte, und das Einzige, was mir immer wieder durch den Kopf ging, war dasselbe, was ich schon den ganzen Tag zum Universum gesagt hatte. Bitte, bitte, bitte, bitte . Ich war kribblig, und ich zitterte vor Nervosität und Kälte. Doch unter der Angst war ein harter Kern der Gewissheit. Es fühlte sich fast so an, als wäre ich in ein Geheimnis eingeweiht, das niemand anders kannte. Ich komme raus! Ich fliege heim!
Normalerweise wurde mir bei der Fahrt in die Stadt übel, aber diesmal konzentrierte ich mich nicht auf das Geschaukel. Ich hatte eine körperliche Erinnerung an jede Kurve der Straße. Zu meiner Enttäuschung schloss die Wache das Rouleau zwischen dem Gefangenenabteil und den Vordersitzen, sodass ich nicht hinausschauen konnte. Ich bemühte mich immer sehr, Bauern bei der Arbeit auf grünen Feldern oder das Stück Straße zu sehen, wo Sonnenblumen wuchsen – eine von Farben gesättigte und von Hoffnung erfüllte Welt statt des beigen und grauen Universums, das ich in Capanne bewohnte.
Doch an diesem Abend spielte das keine Rolle. Ich war in Gedanken versunken. Die Schöffen müssen das ganze Beweismaterial durchgesprochen und gesehen haben, dass es nicht passte. Raffaele und ich konnten Meredith nicht ermordet haben. Der Richter würde die einzelnen Anklagepunkte verlesen und »assolta« sagen – »nicht schuldig«. Oder was auch immer, Hauptsache nicht »colpevole« – »schuldig«.
An manchen Tagen schien es, als müsste ich ewig im Transporter warten, bis ich ins Gerichtsgebäude gebracht wurde, doch diesmal ging alles sehr schnell. Ich wurde im Nu hinein- und die Treppen hinaufgeführt. Ashley und Delaney standen an der Doppeltür, als die Wachen mich an ihnen vorbeischoben. Jede von ihnen rief mit herzzerreißend süßer Stimme: »Ich liebe dich, Amanda!«
Ich hätte sie berühren können, wenn die Wachen es zugelassen hätten. So nah war ich ihnen.
Der Freskensaal hatte sich völlig verändert. Sämtliche Stühle waren hinausgebracht worden, und Hunderte von Menschen standen dicht gedrängt beieinander. So voll es in dem Raum war, so still war es auch. Kein Journalist rief mir etwas zu. Es herrschte gespanntes Schweigen.
Ich hatte meine Eltern, Chris, Cassandra, Tante Christina und Deanna erst an diesem Morgen gesehen, und hier waren sie wieder; sie standen lächelnd in einer Reihe, und jeder von ihnen formte mit dem Mund dieselben Worte: »Ich liebe dich, ich liebe dich.«
Ich nahm meinen Platz zwischen Carlo und Luciano ein und drückte Lucianos bärenartige Hand. »Coraggio«, flüsterte er und erwiderte den Druck.
Es war Mitternacht. Eine Gerichtsglocke klingelte. Die Gerichtsdienerin verkündete zum letzten Mal: »La corte.« Als die Richter und Schöffen nacheinander hereinkamen, war es, als würden all die Menschen im Gerichtssaal nach vorn streben; die gesamte Energie, Nervosität und Erwartung trieb auf denselben Punkt in Raum und Zeit zu.
Jedem der sechs Anklagepunkte gegen mich – Mord, Führen einer Waffe, Vergewaltigung, Diebstahl, Vortäuschung eines Einbruchs und Verleumdung – war ein Buchstabe von A bis F zugeteilt worden, in dieser Reihenfolge.
In den Sekunden, bevor der Richter das Urteil zu verlesen begann, verspürte ich einen Zug nach unten im Magen und ein Schwindeln im Kopf, und ich hatte das Gefühl,
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