Zeit, gehört zu werden (German Edition)
vorging.
Dann brachte mich der Transporter nach Capanne zurück. Ich kam mir völlig hilflos vor, während ich vergeblich darüber nachsann, was ich in meiner Einlassung hätte sagen sollen.
Zurück in meiner Zelle, ging ich auf und ab, setzte mich auf mein Bett, ging wieder, setzte mich. Ich versuchte, mit meinen Zellengenossinnen zu reden, Fanta und Tanya. Aber ich konnte mich auf nichts konzentrieren, was sie sagten.
Sie instruierten mich über sämtliche abergläubischen Praktiken, die ich beherzigen musste, wenn ich mit dem positiven Urteil zurückkam – meine Zahnbürste zerbrechen und sie außerhalb des Gefängnisses wegwerfen, zusammen mit meiner Haarbürste und den Schuhen, die ich am häufigsten trug. Das bedeutete, dass ich nicht zurückkommen würde. »Denk daran, mit dem rechten Fuß über den Boden zu streichen, unmittelbar bevor du in den Wagen steigst«, sagte Fanta. »Das heißt, dass du der nächsten Insassin die Freiheit versprichst.«
Mein Kopf schmerzte, als ich in kurzen Abständen von Aufregung zu schrecklicher Angst und wieder zurück wechselte – und dann noch einmal. Mein Gehirn hüpfte zwischen bitte, bitte, bitte und endlich, endlich, endlich – ENDE hin und her.
Außer meinen Zellengenossinnen war Laura die Einzige, deren Gegenwart ich ertragen konnte. Sie kam während der socialità und machte Hühnchen mit Pilzen zum Abendessen. Ich aß nur einen kleinen Happen.
Ich hatte vor, Fanta und Tanya meine Pfannen, Töpfe und Klamotten zu schenken.
»Du sollst meine Bettwäsche bekommen«, erklärte ich Laura.
»Das wäre toll, Amanda«, sagte sie, »aber versprich mir nichts, bevor wir nicht wissen, was passieren wird.«
»Ich werde dir schreiben, Laura.«
»Hoffentlich. Aber erst mal abwarten.«
Nach dem Essen schaltete Tanya den Fernseher ein. Auf jedem Kanal ging es um meinen Fall: der große Tag! Die Welt wartet auf die Entscheidung im »italienischen Prozess des Jahrhunderts«. Raffaele und Amanda sind in sechs Punkten angeklagt. Merediths Angehörige werden im Gericht sein, um das Urteil zu hören. Amandas Angehörige warten im Hotel. Die Amerikaner glauben, dass es gar keinen Fall gibt, aber die Anklage besteht darauf, dass Merediths DNA an der Mordwaffe und Raffaeles DNA an ihrem BH-Häkchen ist. Die Anklage hat den amerikanischen Medien vorgeworfen, eine falsche Haltung zu dem Fall einzunehmen.
Die Fernsehleute dramatisierten das Ganze: das Leben zweier Individuen – werden sie freikommen oder den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen? Und auf einem anderen Kanal: Es geht darum, ob Amanda auf freien Fuß gesetzt wird oder ergastolo bekommt – lebenslänglich.
Tanya schnappte nach Luft. »Was soll das heißen?«, fragte sie.
Manuela Comodi, die stellvertretende Staatsanwältin, hatte eine lebenslängliche Freiheitsstrafe verlangt, aber es war, als verstünde ich nicht, was das mit mir zu tun hatte. »Ja«, sagte ich, »sie haben ›lebenslänglich‹ beantragt.«
»Darauf wollen sie hinaus?« Tanya erkannte weitaus besser als ich, was auf dem Spiel stand. Sie rutschte nervös herum.
In Italien bedeutet ›lebenslänglich‹: keine bedingte Strafaussetzung. Das nächstniedrige Strafmaß, dreißig Jahre, bietet die Möglichkeit einer Strafaussetzung nach immerhin schon zwanzig Jahren.
»Es wird schon gutgehen«, sagte ich. »Beruhige dich!«
Eine lebenslängliche Freiheitsstrafe war unmöglich. Ich muss freigesprochen werden!
Die Wärterinnen schauten hin und wieder vorbei, um nachzusehen, wie es mir ging.
Ich marschierte immer wieder vom Bett zum Spind und zurück, um eine Liste meiner Sachen aufzustellen. Lagen die Bücher, Kleider und Papiere bereit, die ich mitnehmen wollte? Steckten all meine Briefe in ihrer Mappe?
Die Nacht brach herein. Die Luft draußen war feucht und kalt. Stunden vergingen. Ich war ganz kribblig, es summte unter meiner Haut. Bald musste das Urteil fallen. Schließlich ging ich ins Bett, voll bekleidet bis auf meine Schuhe. Ich lag in der dunklen Zelle, die nur vom Fernseher erhellt wurde, in dem man immer noch über mich und meine Zukunft sprach.
29
4. Dezember 2009
E s war kurz nach elf Uhr abends.
Ich lag in meinem Bett und dachte, vielleicht wird es heute Nacht nichts mehr, als eine Wärterin kam. »Bist du so weit, Amanda?«, rief sie, während sie ihren Schlüssel ins Schloss steckte.
Ich sprang aus dem Bett und begann, meine Laken zu glätten. »Nein!«, riefen Tanya und Fanta. »Tu das nicht! Du musst dein Bett
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