Zeit, gehört zu werden (German Edition)
als würde mein Körper auseinandergerissen. Gleich würde alles vorbei sein. Bitte, bitte, bitte .
»In den Punkten A, B, C und E und zum Teil in Punkt D …«, begann Richter Massei die Urteile für Raffaele und mich zugleich zu verlesen. Seine Stimme war ausdruckslos und so leise, dass ich mich anstrengen musste, um ihn zu hören. Ich wünschte mir mit aller Macht, dass er »assolta« sagen würde.
Er fuhr fort: »… werden die Angeklagten Sollecito, Raffaele und Knox, Amanda …«
»Nein!«, schrie jemand hinter mir.
»… für colpevole befunden«, sagte Richter Massei. »Die Angeklagte Knox, Amanda wird überdies im Punkt F für colpevole befunden.«
Niedergestreckt von den Worten, konnte ich nicht mehr stehen. Ich schmiegte mich an Lucianos Brust und stöhnte: »Nein, nein, nein!«
Ich hörte nicht, wie der Richter sagte: »Ich gewähre die attenuanti – ein milderes Strafmaß. Ich verurteile Knox, Amanda zu sechsundzwanzig Jahren und Sollecito, Raffaele zu fünfundzwanzig Jahren. Die Verhandlung ist geschlossen.«
Mein Leben zerfiel in zwei Teile. Vor dem Urteil war ich eine zu Unrecht angeklagte College-Studentin gewesen, die bald frei sein und nach zwei Jahren endlich ein neues Leben beginnen würde.
Jetzt war mir alles, was ich versprochen bekommen zu haben glaubte, entrissen worden.
Ich war eine verurteilte Mörderin.
Ich war weniger als nichts.
Ich hörte nicht, wie die Leute jubelten oder johlten. Manche beschimpften mich als Mörderin. Andere forderten Freiheit für mich. Das Einzige, was ich in dem ganzen Chaos wahrnahm, war das Schluchzen meiner Mutter und meiner Schwester, das hinter mir aufstieg und mich in Schmerz hüllte.
Dann fassten mich die Wachen zu beiden Seiten unter den Armen und trugen mich hinaus. Ashley und Delaney mussten noch immer an derselben Stelle wie zuvor gestanden haben, um mich zur Feier des Tages zu umarmen und zu küssen, aber ich konnte durch meine Tränen nichts sehen.
Unmittelbar bevor wir die Treppe hinunterstiegen, hielt Carlo uns auf. Er war außer Atem. »Es tut mir so leid! Wir werden gewinnen! Wir werden gewinnen. Wir retten dich, Amanda. Sei stark.«
Es dauerte nur eine Sekunde. Dann waren wir fort. Statt mich in die winzige Arrestzelle zu stecken, in der ich normalerweise zu Mittag aß oder auf den Transporter wartete, setzten mich die Wachen auf einen Stuhl. »Nein, nein, nein«, stöhnte ich hysterisch. Raffaele war neben mir. »Ist schon gut, Amanda«, sagte er. »Ist schon gut.«
Eine der Wachen sagte immer wieder: »Kommen Sie schon. Seien Sie ein braves Mädchen. Halten Sie durch. Das kommt alles in Ordnung.«
»Das ist unmöglich«, rief ich immer wieder, »es ist nicht fair, das ist alles nicht wahr, ich muss nach Hause.«
Sie führten mich zum Gefangenentransporter hinaus und schlugen die Gittertür zu.
Als wir losfuhren, schaute ich einmal hinaus. Der Wärter, der den Transporter fuhr, hatte das Rouleau nicht heruntergezogen, und ich sah die Kameras blitzen. Dann sackte ich in meinem Sitz zusammen und heulte, nach Atem ringend.
Sämtliche Nachrichtensendungen berichteten über das Urteil.
»Sechsundzwanzig Jahre sind eine komische Strafe«, meinte eine der Wärterinnen. »Wenn die Sie fertigmachen wollten, hätten sie ›lebenslänglich‹ gesagt. Es ist fast so, als versuchten sie, Ihnen Hoffnung für die Zukunft zu machen. Sie führen sich so gut. In zehn Jahren werden Sie tagsüber rausdürfen.«
Sie versuchten, mich zu beruhigen.
Aber für mich gab es keinen Trost.
Dritter Teil
Capanne II
30
Dezember 2009 – Oktober 2010
I n Capanne gab es zwei Arten von Selbstmordwachen. Die erste war für diejenigen gedacht, die schon einmal einen Selbstmordversuch unternommen hatten oder seelisch krank waren. Sie wurden in eine leere Zelle gesteckt, vor deren Tür durchgehend eine Wache postiert war. Die zweite galt Häftlingen, die keine entsprechende Vorgeschichte und auch keine bekannten seelischen Probleme hatten, sondern nur einen guten Grund, es zu probieren. Zu dieser Gruppe gehörte ich. Das bedeutete, dass eine Wärterin alle fünf Minuten nach mir sah.
Ich hatte nicht die Absicht, mich umzubringen, aber innerlich war ich bereits tot.
Mein erster Halt nach der Rückkehr vom Gericht war ein Büro gleich hinter der Tür zum Frauentrakt. »Das wird schon wieder«, sagte Lupa, die Wärterin, die an meinem ersten Tag im Gefängnis zu mir in die Zelle gekommen war und mich umarmt hatte. »Ihre Anwälte werden Berufung
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