Zeit, gehört zu werden (German Edition)

dass sie keine Komplizen gewesen sein konnten, wenn sie sich nicht einmal kannten!
    Raffaele, erklärte sie dem Gericht, sei »Mr. Nobody« – von der Staatsanwaltschaft erst nachträglich mit angeklagt. »Es gibt keinerlei Beweise dafür, dass er am Tatort war.« Die Anklage habe sich selbst widersprochen. »Er ist dort, er ist nicht dort. Er hat ein Messer, er hat keines. Er ist aktiv, er ist passiv.«
    Indem sie Raffaele verteidigte, verteidigte sie auch mich. »Wenn das Gericht nichts dagegen hat und Amanda auch nicht: Die Unschuld meines Klienten hängt von Amanda Knox ab«, sagte sie. »Viele Leute werden aus ihr nicht schlau. Aber Amanda sieht die Dinge einfach auf ihre Weise. Sie reagiert anders. Sie ist keine klassische Italienerin. Sie hat einen naiven Blick auf das Leben, oder hatte ihn, als sich das alles ereignete. Doch nur weil sie sich anders benimmt als andere, heißt das nicht, dass sie jemanden getötet hat.«
    »Amanda hat die Welt mit den Augen von Amélie gesehen«, sagte sie mit Bezug auf die eigenwillige junge Frau in dem Film, den Raffaele und ich uns an dem Abend, als Meredith ermordet wurde, angeschaut hatten.
    Amélie und ich hätten einiges gemeinsam, meinte sie. »Die extravagante, exzentrische, fantasiebegabte Persönlichkeit. Wenn es jemanden gibt, der Rad schlägt und eine eingebildete Tat gesteht, dann sie. Ich glaube, es ist nicht schwer zu erraten, was geschehen ist. Die ein wenig exzentrische und naive Amanda hat wirklich versucht, der Polizei zu helfen, als sie in die questura kam, und man hat ihr befohlen: ›Amanda, benutze deine Fantasie. Hilf uns, Amanda. Rekonstruiere alles, Amanda. Finde die Lösung. Gib dir Mühe.‹ Das hat sie versucht, sie hat versucht zu helfen, weil sie der Polizei helfen wollte, weil Amanda eben die Amélie von Seattle ist.«
    Dann kam der Moment, auf den Luciano, Carlo und Carlos Stellvertreterin, Maria del Grosso, gewartet hatten. So wie sie es mir seit mehr als zwei Jahren versprochen hatten, gingen sie den gesamten Fall durch – die Zeugen, die Forensik, die Unlogik –, stellten die Uhr wieder auf Anfang und erzählten alles aus unserer Perspektive.
    »Am Mittag des 2. November 2007 wurde eine Leiche entdeckt«, begann Luciano. »Das war eine beunruhigende Tatsache, die niemanden kaltließ. Natürlich gab es Ermittlungen. Natürlich gab es Zeugenaussagen. Natürlich wurden gleich Spuren gesichert. Und sofort, sofort nach der Entdeckung der Leiche, wurde insbesondere Amanda, aber auch Raffaele verdächtigt, überprüft und vier Tage lang vernommen. Eile war geboten. Effizienz war geboten. Vieles war geboten. Diese Gebote und diese Eile führten zur ungerechtfertigten Verhaftung von Patrick Lumumba – ein schwerer Fehler.«
    Carlo nahm den Faden auf. »Es gibt eine Partei, die dafür Verantwortung trägt, und das ist nicht Amanda Knox. Lumumbas Verhaftung wurde nicht von Amanda Knox durchgeführt. Sie lieferte Informationen, falsche Informationen. Das wissen wir jetzt. Aber man konnte dem, was Amanda diesbezüglich und in diesem Moment sagte, keinen Glauben schenken. Ein Grundprinzip für das Vorgehen unter solchen Umständen ist größte Vorsicht. In dieser heiklen Situation reagierte man stattdessen mit größter Eile.«
    Nachdem sie gehört hatten, was sie hören wollten, nahmen die Ermittler und Staatsanwalt Mignini Patrick fest, ohne weiter nachzuforschen – sie schafften ihn »wie einen Sack Kartoffeln« in die questura, sagte Luciano.
    Ich war erleichtert, jemanden die Wahrheit sagen zu hören. Als ich meine Anwälte in dieser theatralischen Pose sah, entspannte ich mich ein ganz kleines bisschen.
    Maria del Grosso kritisierte Mignini für seine frei erfundenen Geschichten. »Heute muss ein Urteil gefällt werden, ob dieses Mädchen einen brutalen Mord begangen hat. Um diese Beschuldigung aufrechtzuerhalten, braucht man sehr starke Elemente, und welche Elemente bringt uns die Anklage? Die Toilettenspülung. Amanda nahm es mit der Treue nicht so genau. Ich hoffe, dass nicht einmal Staatsanwalt Mignini an den unwahrscheinlichen, unrealistischen, imaginären Gegensatz zwischen den beiden Figuren Amanda und Meredith glaubt.«
    Ja. Sorgt dafür, dass sie Meredith und mich nicht mehr gegeneinander ausspielen! Im wirklichen Leben waren wir nie so!
    »Sie werden Recht sprechen müssen, aber bedenken Sie: Die Verurteilung zweier Unschuldiger wird weder dem Andenken der armen Meredith noch ihrer Familie Gerechtigkeit widerfahren lassen. In diesem