Zeit, gehört zu werden (German Edition)
wegen Amtsmissbrauchs zu sechzehn Monaten auf Bewährung verurteilt. Er hatte seine Autorität benutzt, um Leute einzuschüchtern und zu manipulieren. Zum Zeitpunkt meiner Verurteilung stand außer Frage, dass er mich ebenfalls manipuliert hatte. Sein Verfahren ist gegenwärtig in der Revision anhängig.
Meine Weltuntergangsstimmung verstärkte sich. Da der Staatsanwalt so kurz nach mir verurteilt worden war, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass man damit bis zum Ende meines Prozesses gewartet hatte. Als ich an diesem eisigen Januartag in meiner kaum geheizten Zelle saß, glaubte ich, dass die Italiener das Wort Gerechtigkeit zur Farce verkommen lassen hatten.
Im Lauf der Monate wurde mir klar, dass ich nicht nur wegen Mordes verurteilt worden war – ich war auch zu einem Leben fern von den Menschen verurteilt worden, die ich liebte. In der Praxis spielte meine Unschuld keine Rolle mehr. Ob ich nun ins Gefängnis gehörte oder nicht, es war plötzlich meine ganze Welt.
Ich hatte immer versucht, meine Tage dort mit geistigen und körperlichen Übungen zu füllen – in der Zwischenzeit, sagte ich mir. Bis ich nach Hause kann. Ich hatte mir Italienisch beigebracht, und ich war gesund.
Nach der Verurteilung wurde meine Zielstrebigkeit zu meinem Rettungsfloß. Auf meinem Meer des Kummers auf und ab tanzend, klammerte ich mich an ihr fest. Nur durch sie gelang es mir, meine Beziehungen, meine Menschlichkeit, meine geistige Gesundheit zu bewahren. Ich war besessen von dem Bedürfnis, dafür zu sorgen, dass jeder Tag zählte. Das Einzige, was ich nicht ertragen konnte, war, mein Leben im Gefängnis zu vergeuden.
Das Gefängnispersonal begann, mich als Dolmetscherin für jeden zu holen, der kein Italienisch sprach, selbst wenn die andere Sprache Chinesisch war, und ich musste auf Wörter in dem Englisch-Chinesisch-Wörterbuch zeigen, das ich zufällig besaß.
Wie Minas Mutter Gregora half ich auch anderen Häftlingen, Briefe, Urkunden und Einkaufslisten zu schreiben oder dem Arzt Beschwerden zu erklären. Die Nigerianerinnen behandelten mich als Ehrengast; sie ließen mich an einem Tisch Platz nehmen und boten mir Tee und Kuchen an, während sie mir etwas diktierten. Auf diese Art fügte ich mich zu meinen eigenen Bedingungen in die Gefängnisgemeinschaft ein und versuchte, eine gute Balance zwischen der Hilfe für andere und Selbstschutz zu finden. Sosehr ich auch litt, ich fand es nicht richtig, die Tatsache zu ignorieren, dass ich sowohl Englisch als auch Italienisch lesen und schreiben und damit anderen Insassinnen helfen konnte.
Jede Nacht, wenn ich ins Bett ging, machte ich mir einen Plan für den nächsten Tag, Aufgabe für Aufgabe, Stunde um Stunde. Wenn ich nicht jeden Punkt abhakte, hatte ich das Gefühl, nachlässig gewesen zu sein. Ich schrieb, soviel ich konnte – Tagebücher, Geschichten, Gedichte. Ich konnte Stunden damit verbringen, einen einzigen handschriftlichen Brief an meine Freundin Madison oder meine Mutter zu schreiben.
Ich überlegte mir, was ich den Leuten, die mich in dieser Woche besuchen kamen, sagen wollte, und welche Botschaft ich bei meinem wöchentlichen Anruf nach Hause vermitteln wollte.
Ich wurde zu einer zielgerichteten Leserin. Franz Kafka war mir ohnehin schon lieber als Jackie Collins, aber jetzt fühlte ich mich zu Büchern mit Figuren hingezogen, die isoliert und verloren waren oder auf surreale, existenzielle Weise trauerten – Fjodor Dostojewskis Die Dämonen, Alexander Solschenizyns Der erste Kreis der Hölle, Marilynne Robinsons Haus ohne Halt und Umberto Ecos Die Insel des vorigen Tages .
Ich las eine Menge! Und ich verspürte häufig mehr Solidarität mit den Figuren und den Schriftstellern, die sie erschaffen hatten, als mit den echten Menschen, die ich kannte.
Nach meiner Verhaftung hatte mich die Gefängnispsychiaterin oftmals gefragt, ob ich Selbstmordgedanken hegte. Ihre Fragen waren mir immer seltsam vorgekommen – und das galt auch für die Selbstmordwache, die in der Nacht nach dem Urteil für mich eingerichtet wurde. Wie konnte sich jemand umbringen? Es gibt immer Hoffnung. Im Leben gibt es immer etwas zu gewinnen. Wie mein Leben auch aussah, es bedeutete mir etwas – mir, meinen Freunden und meiner Familie. Ich könnte nie an so etwas denken.
Ich versuchte, irgendwie damit zurechtzukommen, dass mein Leben innerhalb dieser grauen Mauern eingeschlossen war. Und allmählich verstand ich, wie man sich in seinem eigenen Leben derart
Weitere Kostenlose Bücher