Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Verurteilung besuchen. Als Präsident und Vizepräsident der Italy-USA Foundation wollten sie mir helfen, sagten sie. Rocco war ein konservativer Politiker mittleren Alters mit jungenhaftem Gesicht und ebensolchem Lächeln. Corrado war ein gesprächiger Professor der Wirtschaftswissenschaften. Anfänglich misstraute ich ihnen. Ich bekam jede Menge Post von Leuten mit morbider Neugier (und warf sie weg). Später erzählten mir die beiden, sie seien selbst mit einem beklommenen Gefühl gekommen. Zu ihrer Erleichterung hatten sie dann festgestellt, dass ich nicht dem Bild entsprach, das man von mir gezeichnet hatte.
Ihre Freundschaft ging zwar nicht sehr tief, aber sie verlieh mir Auftrieb. Sie besuchten mich mindestens einmal im Monat und schickten mir einmal pro Woche Bücher. Sie besorgten mir einen Mac-Computer und schenkten mir zum Geburtstag einen iPod. Und irgendwie gelang es ihnen, dem Gefängnisdirektor die Erlaubnis abzuringen, dass ich die Geräte benutzen durfte.
Neben der Gefängnisfreundschaft mit Laura und Don Saulo gab es noch eine andere, die mir viel bedeutete, nämlich die mit einem kleinen Mädchen namens Mina, deren Mutter, Gregora, wegen Diebstahls in Capanne saß. Die völlig ungebildete Gregora konnte weder das Jahr noch das Datum oder die Uhrzeit nennen. Sie konnte weder lesen noch schreiben, weder addieren noch subtrahieren. Sie wusste nicht, wie alt Mina war, nur dass sie das Licht der Welt erblickt hatte, als es draußen kalt gewesen war.
Fanta hatte uns miteinander bekannt gemacht. »Gregora braucht jemanden, der ihre Briefe schreibt«, sagte sie. Ich vereinbarte dieselben Regeln mit ihr wie mit jeder anderen, der ich beim Briefschreiben half: »Ich denke mir keinen Text aus, aber ich schreibe auf, was du sagen willst. Du redest, ich schreibe.«
Da Gregora und Mina in einer Mutter-Kind-Abteilung waren, sah ich sie während des passeggio – unsere Außenbereiche waren nur durch eine hohe Gitterwand getrennt. Gregora steckte mir einen Stift und Papier zu, und ich widmete ihr die erste halbe Stunde unserer nachmittäglichen Zeit im Freien. Manchmal machte ich Pause, um mit Mina zu sprechen, die immer für sich allein spielte. Sie wackelte in selbst auferlegtem Schweigen herum, wie es schien, und kommunizierte mit Gesten. Da sie den größten Teil ihres Lebens im Gefängnis verbracht hatte, ging Mina niemals ohne Erlaubnis durch eine Tür, und sie drehte dabei die Hand, um einen Schlüssel im Schloss anzudeuten. Ernst und misstrauisch gegenüber Fremden, schien sie eine uralte Seele zu haben – müde, wachsam und weise. Manchmal brachte sie eine zerlumpte Puppe mit und wiegte sie für mich in den Armen, wobei sie mir nickend in die Augen schaute, als könnte ich ihr das Herz ausschütten, und sie würde es verstehen.
Mütter und ihre Kinder durften auch an Don Saulos Gruppenaktivitäten teilnehmen. Mina saß auf meinem Schoß, während wir uns Filme ansahen, ließ sich von mir durch den Raum tragen und erwählte mich zur Tanzpartnerin, wenn Don Saulo religiöse Musik spielte. Sie tauschte gern Schuhe mit mir. Dann hängte sie mir ihre winzigen, roten Plastikschühchen an die Zehen und stapfte in meinen umher.
Eines Nachmittags kam Gregora draußen ans Gitter gelaufen und rief: »Amanda! Amanda!«
Ich ging hinüber und rechnete damit, dass Gregora mir den neuesten Brief ihres Mannes geben würde, eines Häftlings auf der Männerseite. Stattdessen flüsterte sie: »Hör mal!«
Ich schaute mich um und sah Mina, die ganz allein mitten auf dem Hof spielte.
»Das ist das Lied, das du in der Kirche singst!«, rief Gregora.
»Heve–sha–om–ahem …«
Ich hörte eine blecherne, hohe Stimme, die eine Melodie quäkte.
»Hevenu shalom alechem« – »Wir brachten Frieden euch allen.« Es war eines der Lieblingslieder der Häftlinge bei der Messe, und ich begleitete es auf der Gitarre.
Das kann nicht Mina sein! Ich hatte immer geglaubt, falls sie jemals spräche – oder sänge –, wäre ihre Stimme heiser und tief, wie die einer alten Frau. So benahm sie sich. Es griff mir ans Herz, als ich hörte, wie sie mit einem kleinen Babystimmchen ein Lied piepste.
Ich behielt mein Versprechen für mich. Nach meiner Verurteilung meldete ich mich umgehend bei der Friseurin an, die uns unentgeltlich die Haare schnitt. »Abschneiden«, sagte ich.
»Du bist verrückt«, stieß die Frau neben mir hervor, deren Haare in Alufolie eingewickelt waren. Die Friseurin schaute mir im Spiegel besorgt in die
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