Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Augen.
»Bist du sicher?«, fragte sie.
»Ja. Mach schon«, sagte ich energischer als beabsichtigt.
Hinterher hatte ich eine primitive, jungenhafte Haarkappe. Ich war in magisches Denken verfallen und glaubte, kurze Haare würden mich verwandeln, dieser Protest im Wasserglas würde irgendwie bewirken, dass ich mit meiner Verurteilung besser zurechtkam oder eine andere wurde. Jedenfalls brachte er mir einen Besuch bei der Psychiaterin ein.
»Wissen Sie, Leute nehmen nur dann drastische Veränderungen vor, wenn sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen«, tadelte sie.
»Auf mich trifft das nicht zu«, erwiderte ich verärgert. »Ich möchte nur, dass man mich in Ruhe lässt. Was ich mit meinen Haaren anstelle, ist meine Sache.«
»Haben Sie noch mal darüber nachgedacht, ein Antidepressivum zu nehmen?«
»Nein danke«, sagte ich kurz.
»Wenn Sie irgendwann hier herauskommen, werden Sie eine Menge Hilfe brauchen – zumindest psychologische«, sagte sie.
Ich konnte es nicht ausstehen, wenn Leute mich belehrten, als wüssten sie, wie es mir jetzt gerade ging und irgendwann einmal gehen würde. Niemand kann meine Gedanken verstehen. Nicht einmal die Menschen, die mich am meisten lieben, können sich vollständig mit mir identifizieren.
Aber der Kontakt zu ihnen hielt mich zusammen. Ich lebte für die Besuche im Gefängnis und mein wöchentliches Telefongespräch mit Freunden und Angehörigen in Seattle, immer am Samstagabend um sieben. Bei denjenigen, die mich in Perugia nicht besuchen konnten, war es meine einzige Verbindung zu ihrer Stimme. Samstags lief stets mein innerer Countdown, und genau um zehn Minuten vor sieben rief ich: » Agente, Telefongespräch!« Eines Abends rief ich, aber niemand kam. Mein Anruf war für Punkt sieben Uhr als R-Gespräch angemeldet. » Agente! Telefongespräch!« Keine Antwort. » Agente! Telefongespräch!« Keine Antwort.
Ich sank zu Boden und rollte mich weinend und schreiend zu einer Kugel zusammen. Ich fühlte mich wie ein Hund im Zwinger, der hinter Gittern um Hilfe jaulte. Ich schrie nach jemandem, aber niemand kam. Meine Familie wartete in der Leitung, und das Telefon war nur ein paar Schritte entfernt. Niemals zuvor und danach war ich einem Zusammenbruch so nah.
Als die Wärterin um halb acht kam, schrie ich immer noch.
»Ich war unten«, sagte die Wärterin. »Tut mir leid.«
Ich wusste damals nicht, dass der Gefängnisetat gekürzt worden war und dass die Wärterinnen, die früher für eine Etage zuständig gewesen waren, jetzt zwei beaufsichtigen mussten. Und ich war so wütend, dass es mich wohl auch kaum interessiert hätte. Im Gefängnis gab es nichts, worauf ich meine Hoffnungen setzte. Ich erwartete keine Freundlichkeiten, von niemandem. Aber mein Telefongespräch war mir wichtig. Ich versuchte, mir keinen Ärger einzuhandeln. Ich half, wann immer ich konnte. Und jetzt würde es vierzehn Tage dauern bis zum nächsten Gespräch mit meinen Angehörigen in Seattle. Ich konnte mich nicht auf die Justiz verlassen, und ich konnte mich nicht auf die Menschen verlassen.
Im Rückblick dachte ich, wie dumm ich im November 2007 gewesen war, bei meiner Verhaftung. Ich hatte mich für einen Sonderfall gehalten und geglaubt, ich würde nur ein paar Stunden – höchstens ein paar Tage – zu meinem Schutz im Gefängnis festgehalten. Als die Ermittlungen begannen, dachte ich, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis die Staatsanwaltschaft erkannte, dass ich fälschlich beschuldigt worden war. Und während meines Prozesses war ich sicher gewesen, dass ich nicht verurteilt werden würde. Doch jetzt war ich am Ende angelangt. Dies war nun mein Leben. Ich war nichts Besonderes. In den Augen des Gesetzes war ich eine Mörderin.
Wie Lupa, die Wärterin, gesagt hatte: Meine Anwälte würden zweifellos Berufung einlegen. Aber ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass das Berufungsgericht mich freisprechen würde. Mein Fall war ein Medienereignis ersten Ranges gewesen, er war zu groß und zu bekannt. Sechzig Prozent der Italiener hielten mich für schuldig. Es war schrecklich zu hören, dass Fremde glaubten, ich hätte meine Freundin umgebracht. Dieses Gefühl verschlimmerte sich noch, als das Berufungsgericht drei Wochen nach der Verkündung des Urteils gegen Raffaele und mich Rudy Guedes Strafe halbierte, von dreißig auf sechzehn Jahre. Merediths Mörder würde nun ZEHN JAHRE weniger im Gefängnis sitzen als ich! »Wie können sie das tun?!«, schimpfte ich vor mich hin. »Das
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