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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Knox
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als Mina ihrer Mutter weggenommen und in ein Waisenhaus gesteckt wurde, machten meine eigenen Verlustgefühle es nur noch schlimmer für mich. Obwohl Gregora das Geburtsdatum ihrer Tochter nicht kannte, waren Gefängnisbeamte zu dem Schluss gelangt, sie müsse drei sein. Von da an brachte eine Sozialarbeiterin Mina einmal pro Monat für eine Stunde zu ihrer Mutter. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich mich mehr mit dem Kind identifizierte, das ich inzwischen liebte, oder mit seiner untröstlichen Mutter. Aber in einem Punkt war ich mir sicher: Das Gefängnis zerriss Familien, und sie konnten nie mehr geflickt werden.
    Meine Mutter konnte meine Traurigkeit nicht akzeptieren. Sie schrieb und sagte mir oft, wie viel Angst sie um mich hatte. »Du veränderst dich, Amanda«, sagte sie. »Du bist nicht mehr fröhlich. Ich hoffe, wenn du rauskommst, kannst du wieder so glücklich sein wie früher.«
    »Mom«, schrieb ich zurück, »es zahlt sich nicht immer aus, wenn gute Menschen etwas Gutes tun. Manchmal landet man grundlos in der Scheiße und kann nichts dagegen machen.«
    Um mir meine emotionale Stabilität zu bewahren, musste ich die Szenarien für den schlimmsten und den besten Fall in Betracht ziehen. Ich war keine Touristin mehr, die darauf wartete, dass sie nach Hause durfte, sondern eine Gefangene. Ich versuchte herauszufinden, wie ich glücklich sein konnte, selbst wenn ich nicht auf freien Fuß kam. Ich bereitete mich auf ein Leben im Gefängnis vor. Es machte meiner Mutter Angst, dass ich mich nicht ausschließlich darauf konzentrierte herauszukommen; sie betrachtete das als Kapitulation.
    Ich kapitulierte jedoch nicht. Ich hatte die Hoffnung nicht verloren, aber ich verließ mich auch nicht mehr auf sie.
    Meine Mutter konnte nicht verstehen, was ich ihr zu sagen versuchte: dass es nicht wichtig war, ständig optimistisch zu sein, sondern mit der Wirklichkeit zurechtzukommen – im Guten wie im Schlechten – und etwas Positives daraus zu machen. Für sie hieß das, dass ich eine Pessimistin geworden war. Es war schwer für uns, miteinander darüber zu reden.
    Meine Verurteilung und die Art, wie ich sie zu bewältigen versuchte, führten mich auf einen abweichenden Pfad, und ich fürchtete, ich könnte meine Familie verlieren. Nicht im wörtlichen Sinn, aber in meiner Seele. Wurde ich ein anderer Mensch, den sie nicht mehr erreichen konnten?
    Ich glaubte keine Sekunde lang, dass sie mich im Stich lassen würden. Chris hatte Wort gehalten und war praktisch nach Perugia gezogen, wo er jeweils für mehrere Monate am Stück wohnte, und es gab immer jemanden, der mich während der Besuchszeiten zweimal pro Woche besuchte. Zu Hause hatte Oma angefangen, bei jedem Familientreffen eine Kerze anzuzünden, die für mich stand, und Deanna erzählte mir gut gelaunt: »Schau dir an, wie verrückt wir alle sind! Wir zünden eine Kerze an und tun so, als wärst du das!«
    Aber an mir fraß die Frage, wie lange sie das Hin und Her zwischen Seattle und Perugia aufrechterhalten konnten oder sollten. Was wird meine Familie tun? Was ist mit der Arbeit? Was ist mit dem Leben?
    Für meine Freunde galt das Gleiche. Wie soll ich ihnen sagen, dass ich jetzt hier im Gefängnis lebe und sie ihr eigenes Leben weiterführen müssen – ohne mich? Kann ich ihnen sagen, dass sie mich eine Zeitlang einfach vergessen sollen?
    Ich wollte um nichts in der Welt vergessen werden. Aber ich machte mir nicht nur Gedanken über die Logistik eines solchen Lebens; vielmehr hatte ich schreckliche Angst, wir könnten an einen Punkt kommen, wo wir einander nicht mehr verstanden. Sie hatten noch das Recht zu wählen, was sie mit ihrem Leben anfangen wollten. Sie waren frei. Ich nicht. Ich war meinen Wärterinnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ich hatte Angst, dass sie mit meiner neuen Gefängnisidentität nicht mehr zurechtkommen würden, und meine Mutter war für mich der Beweis dafür. Wenn genug Zeit verging, würden wir zwei verschiedene Sprachen sprechen – und es hätte nichts und alles mit ihrem Englisch und meinem Italienisch zu tun.

31
    November–Dezember 2010
    M eine Freundin Madison saß neben mir im Besuchsraum in Capanne. Als sie die Hand ausstreckte und mir über die Wange strich, zuckte ich zusammen.
    »Ganz ruhig, Baby. Das war nur eine Wimper«, sagte sie.
    Meine Nervosität erschreckte mich. »Ich bin wohl nicht mehr daran gewöhnt, dass mich jemand anfasst.«
    Zu dem wenigen Guten, das mir während der drei Jahre im

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