Zeit, gehört zu werden (German Edition)
eingesperrt fühlen konnte, dass man ihm unbedingt entfliehen wollte, selbst wenn es bedeutete, dass man dann nicht mehr existierte.
Die Methoden, mit denen andere Häftlinge sich umzubringen versucht hatten, waren wohlbekannt – und ich stellte mir vor, wie ich sie alle ausprobierte.
Eine Möglichkeit war, sich zu vergiften, normalerweise mit Bleichmittel. Aber es war schmerzhaft und schwierig, genug davon zu schlucken und es lange genug im Magen zu behalten. Für gewöhnlich erregte die Kotzerei zu schnell die Aufmerksamkeit der Wärterinnen, und dann pumpten sie einem den Magen aus. Das schien mir eine qualvolle Art der Selbsttötung zu sein, wenn nicht einmal der Erfolg garantiert war.
Man konnte auch die Glasscherben eines Taschenspiegels oder einen kaputten Plastikstift schlucken, mit dem Kopf bis zum Tode gegen die Wand schlagen oder sich erhängen.
Aber die häufigste und narrensicherste Selbstmordmethode im Gefängnis war, sich mit einem Müllbeutel zu ersticken – zwei Häftlingen auf der Männerseite gelang es, während ich dort war. Die Beutel konnte man sogar über die Einkaufsliste beziehen. Man zog sich den Beutel über den Kopf, steckte eine offene Gaskartusche für Campingkocher hinein und band ihn um den Hals herum zu. Durch das Gas verlor man sehr schnell das Bewusstsein, und falls nicht jemand den Beutel sofort öffnete, war’s das.
Weniger effizient, aber in meinen Augen würdevoller war es, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Ich bildete mir ein, dass man es schaffen könnte, in der Dusche genug Zeit dafür zu haben. Das laufende Wasser würde die Zellengenossinnen davon abhalten, die Privatsphäre zu verletzen, und das Sichtfenster der Wärterin würde vom Dampf beschlagen. Ich stellte mir vor, wie ich mir beide Handgelenke aufschnitt und in einem ruhigen, stillen, warmen Nebel ins Jenseits hinüberglitt.
Ich fragte mich, welcher Strohhalm für mich brechen musste, damit ich wirklich etwas Derartiges tat. Was würden meine Angehörigen und Freunde denken? Wie würden die Wärterinnen meine Leiche vorfinden?
Ich sah mich als Leiche. Das erleichterte mich nicht, sondern mir wurde davon übel, aber ich hatte diese Fantasie oft – schreckliche, verzweifelte, immer wiederkehrende Gedanken, die ich mit keiner Menschenseele teilte.
Ich malte mir auch aus, wie es wäre, ein Leben außerhalb des Gefängnisses zu führen. Wo wäre ich jetzt wohl, wenn dies alles nicht geschehen wäre? Ich stellte mir vor, ein ganz normaler Mensch zu sein – einkaufen zu gehen, mir im Starbucks Kaffee zu holen, mit meiner Mutter zu Mittag zu essen, in Felswänden zu klettern. Ich verlor mich in Erinnerungen an meine Jugend – Spaziergänge mit Oma und Feuerwerk am 4. Juli mit meinem Vater, Footballspiele mit meinen Freunden oder wie ich Madison beim Entwickeln von Fotos geholfen hatte, Radtouren mit DJ und lange Spaziergänge mit James.
Ich dachte daran, wie gern ich heiraten und Kinder kriegen würde. Wenn ich wegen guter Führung mit dreiundvierzig entlassen werde, kann ich immer noch eins adoptieren.
Andere Insassinnen sagten: »Du hast Glück, dass du schon in so jungen Jahren ins Gefängnis gekommen bist, weil du noch rauskommen und auf eigenen Beinen stehen wirst.«
Wovon redet ihr, verdammt noch mal?, dachte ich. Woher soll ich später wissen, wie ich leben soll? Ich werde ja keine Chance bekommen haben, erwachsen zu sein!
Ich fing an, Selbstgespräche zu führen, als unterhielte ich mich mit einer jüngeren Schwester. Nur nichts überstürzen, erklärte ich ihr. Halte die Augen offen, beobachte die Dinge, sei nicht so unsicher. Es ist alles in Ordnung mit dir.
Und sie erwiderte: Sei nicht so streng mit dir.
Das beruhigte mich, aber ich begann mir Sorgen zu machen, dass ich verrückt werden könnte. Ist das einer der Schritte auf dem Weg zum Verlust des Verstands?
Von der Lebenseinstellung her war ich immer eine Optimistin gewesen, und meine Mutter war nach wie vor eine; sie bestand weiterhin darauf, dass ich freigelassen werden müsste. Aber der Optimismus hatte mich nicht gerettet. Ich sah mich im Gefängnis alt werden, sah mich alles verlieren, worauf ich im Leben jemals gehofft hatte, und eines Tages als Schatten eines Menschen in die Welt zurückkehren, ohne dass mich noch jemand verstehen konnte. Ich dachte, ich sähe wohl wie eine kleinere Version von Laura mit braunem Haar aus – vielleicht weil sie ungefähr so alt war, wie ich dann sein würde.
Eines weiß ich aber genau: An dem Tag,
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