Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Gefängnis widerfuhr, gehörte, dass Madison von Seattle nach Perugia zog, um in meiner Nähe zu sein. Sie war im November 2010 angekommen – nur wenige Tage, nachdem mir Laura ihre Bettwäsche in die Hand gedrückt, mich tränenreich umarmt hatte und in ein Rehabilitationszentrum nach Neapel verlegt worden war.
Eine Freundin konnte die andere nicht ersetzen. Laura war meine engste Vertraute gewesen. Madisons einstündige Besuche zweimal die Woche bauten mich wieder auf – und lieferten mir oft wertvolle Informationen. Madison, die nach einer schlimmen Trennung am Boden zerstört war, lebte nach einem Leitsatz der Mormonen, mit dem sie aufgewachsen war: »Vergiss dich selbst und mach dich an die Arbeit.« Sie sorgte dafür, dass ich weder die Bodenhaftung noch die Hoffnung verlor. Aber sie musste auch von irgendetwas leben. Als Fotografin, die kein Italienisch konnte, wandte sie sich hilfesuchend an Rocco und Corrado. Mit deren Empfehlung und ihrer Fotomappe gelang es ihr, einen Job als Fotografin bei einem Lokalblatt zu ergattern. In ihrer Freizeit sprachen sie und ein befreundeter Dolmetscher mit Journalisten, Anwälten und Leuten auf der Straße über meinen Fall. Vielleicht würde eines dieser Gespräche Carlo, Luciano und mir zusätzliche Anhaltspunkte liefern, um mich aus dieser Hölle zu befreien.
Nach meiner Verurteilung trösteten mich Angehörige, Freunde, Mithäftlinge – komischerweise sogar Gefängnisbeamte – damit, dass das Berufungsverfahren bestimmt zu einer Reduzierung des Strafmaßes, wenn nicht gar zur Aufhebung des Urteils führen würde. Rocco und Corrado versicherten mir, in Italien würden etwa die Hälfte der Fälle in der Berufung gewonnen.
Der früheren Amanda hätte ihr Optimismus gefallen. Aber ich hatte mir schon so oft die Finger verbrannt, dass ich inzwischen schreckliche Angst hatte. Warum sollte das Berufungsgericht zu einem anderen Urteil gelangen als die Instanz davor? Oder als der Richter im Vorverfahren? Beide hatten sich den Standpunkt des Staatsanwalts zu eigen gemacht. Hier stand nicht nur mein Fall, sondern das gesamte italienische Rechtssystem auf dem Prüfstand. Meine Geschichte war weithin publik, und die ganze Welt sah zu. Die Justizbehörden konnten jetzt schwerlich zurückrudern.
Eins hatte sich allerdings verändert: Ich hatte mich verändert. In dem Jahr seit meiner Verurteilung hatte ich beschlossen, kein Opfer zu sein, denn das würde mir nicht weiterhelfen. Im Gefängnis gab es eine Menge Frauen, die andere für ihre Situation verantwortlich machten. Sie zogen sich in ihre Lethargie und Wut zurück. So jemand wollte ich nicht sein. Ich tat alles, um mich aus dem dunklen Loch zu befreien, in das ich gefallen war. Ich hatte mir geschworen, so zu leben, dass ich meine Selbstachtung nicht verlor. Ich wollte mich selbst lieben. Und ich würde das Leben so weit auskosten, wie es mir hinter Gittern möglich war.
Mein Verhalten während des ersten Verfahrens nagte an mir. Und wenn ich nun öfter den Mund aufgemacht hätte, wenn ich mich zu den Aussagen anderer Zeugen klarer geäußert hätte, wenn ich nachdrücklicher meine Unschuld beteuert hätte? Hätte das einen Unterschied gemacht? Die Schöffen und die ganze Welt mussten doch erkennen, dass es keine Beweise gegen mich gab, so hatte ich es jedenfalls erwartet. Aber denselben Fehler würde ich nicht noch einmal machen.
Obwohl meine Anwälte mein vollstes Vertrauen besaßen, wollte ich diesmal in jede Entscheidung mit einbezogen werden. Das war ich mir schuldig. Einen weiteren Schuldspruch, nur weil mein Team und ich ein winziges Indiz zu meinen Gunsten übersehen hatten, würde ich nicht überleben.
Sobald ich anfing, über meine Möglichkeiten nachzudenken, schien nichts mehr unvorstellbar. Sollte ich dem neuen Richter schreiben? Dem amerikanischen Außenminister? Warum nicht gleich dem Präsidenten?
Statt zu schreiben, las ich. Die 407 Seiten umfassende Urteilsbegründung von Richter Massei erläuterte, warum wir verurteilt worden waren und wie Raffaele, Guede und ich Meredith ermordet hatten. Das angebliche Motiv war so an den Haaren herbeigezogen wie die Handlung einer Seifenoper. »Amanda und Raffaele hatten keine Verpflichtungen mehr; zufällig lernten sie Rudy Guede kennen und nahmen ihn mit in das Haus in der Via della Pergola … wo sich Meredith allein aufhielt«, schrieb Massei.
Die Richter und die Schöffen gingen davon aus, dass Raffaele und ich intim miteinander wurden und Guede, durch uns
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