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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Knox
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Rudy, Raffaele und ich nur ein einziges Mal zusammen am gleichen Ort befunden haben, und das ist hier vor Gericht«, sagte ich. »Von seiner Aussage bin ich geschockt und schmerzlich berührt. Er weiß, dass wir nicht am Tatort waren.«
    Dann setzte ich mich hin und brach in Tränen aus.

33
    29. Juni 2011
    W as wäre, wenn?
    Vierundzwanzig Stunden bevor die vom Gericht ernannten Gutachter ihren Bericht vorlegen würden, gingen mir ständig diese drei Worte durch den Kopf. Was wäre, wenn? Was wäre, wenn das Gutachten Merediths DNA auf der Messerklinge bestätigte? Was wäre, wenn sie herausfanden, dass der BH-Verschluss nicht verunreinigt worden sein konnte?
    Oder was wäre, wenn die Gutachter es wagten, die Wahrheit zu sagen und die Verteidigung zu unterstützen?
    Ich wusste, dass die DNA-Untersuchungen der Staatsanwaltschaft fehlerhaft waren. Aber bei unserem Fall war so viel schiefgelaufen, warum sollte es jetzt anders sein?
    Die Wissenschaft war auf unserer Seite. Die Messerklinge war negativ auf Blut getestet worden, und es bestand eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Verschluss kontaminiert worden war, während er sechs Wochen lang auf dem Boden herumlag. Aber ich hatte kein Vertrauen mehr in Fakten. Sie hatten mich auch früher nicht gerettet. Ich wagte kaum zu hoffen, und doch konnte ich es nicht unterdrücken.
    Während des Sommers gab es Augenblicke, in denen ich dem Druck entkommen und einfach ich selbst sein konnte – eine junge Frau von dreiundzwanzig Jahren.
    Oft rief mich Don Saulo nachmittags in sein Büro, wo ich eine Stunde bei ihm verbrachte. Die Zeit mit ihm war kostbar für mich.
    Ich hatte mich daran gewöhnt, ihm alles zu erzählen, was mir durch den Kopf ging, und ich schätzte seine Intelligenz, sein Mitgefühl, seine Intuition und sein Einfühlungsvermögen. Don Saulos Welt war klein und überschaubar, aber seine Liebe zu den Menschen kannte keine Grenzen. Ihm erzählte ich von meiner Familie und meinen Freunden, meiner Vergangenheit und meinem jetzigen Leben, meinen Ängsten und Freuden, Ansichten und Zweifeln.
    Wir sprachen auch über Musik. Don Saulo hatte mich gebeten, im Gottesdienst am Samstagnachmittag Gitarre zu spielen. Er lehrte mich die Grundlagen der Harmonielehre und unterrichtete mich auf einem alten E-Piano in seinem Büro. Manchmal hörten wir uns einen Song auf seinem tragbaren CD-Player an und versuchten anschließend, ihn auf der Gitarre und dem Klavier nachzuspielen. Ich zeichnete mir die Klaviatur auf Papier auf, damit ich die Akkordfolgen mit Kopfhörern im Ohr abends in meiner Zelle üben konnte.
    Aber am Tag vor der Vorstellung des Gutachtens war ich zu nervös zum Musizieren.
    Don Saulo saß mir gegenüber und wärmte meine eiskalten Hände in seinen, während ich sämtliche »Was wäre, wenn«-Möglichkeiten durchging.
    »Egal, was passiert«, riet er mir, »leben Sie aus dem Vollen.«
    Ich senkte den Blick. »Sie haben recht. Mir bleibt nur, das Beste daraus zu machen.«
    Nach der Stunde bei ihm kehrte ich niedergeschlagener denn je in meine Zelle zurück.
    Irina, meine Zellengenossin zu dem Zeitpunkt, saß breit lächelnd auf ihrem Bett.
    »Was hast du?«, fragte ich.
    »Och, nur eine klitzekleine Neuigkeit«, schnurrte sie.
    Mein Herz hüpfte. Sie muss was über das Berufungsverfahren wissen. Ich stellte mir vor, es seien gute Nachrichten. Aber sie hat dieses provozierende Grinsen. Wenn sie sich nur über mich lustig macht?
    »Alle sagen es«, platzte sie heraus. »Du kannst nach Hause!«
    »Der Bericht ist draußen?!«, kreischte ich. »Es ist alles gut?! Ich kann nach Hause?! Wer sagt das?«
    »Es kam in den Fernsehnachrichten. Das forensische Gutachten ist da! Du bist entlastet! Sie sagten, du würdest freikommen!«
    Ich musste es mit eigenen Ohren hören. Wie wild begann ich durch die Fernsehsender zu zappen, bis ich auf die Nachrichten stieß.
    »Svolta giudiziaria« – »Überraschende Wende im Prozess« lautete die Schlagzeile hinter einem Nachrichtensprecher, der über meinen Fall sprach. Am unteren Bildrand flimmerte der Nachrichtenticker: »Von Gericht ernannte Gutachter verwerfen die für die Verurteilung von Knox und Sollecito verantwortlichen DNA-Spuren als ungenügend. Neue Hoffnung für die Angeklagten.«
    Plötzlich schien mein Herz den gesamten Brustkorb auszufüllen. Ich konnte kaum atmen. Seit dem Augenblick meiner Verhaftung hatte ich keine positiven Nachrichten über meinen Fall im Fernsehen gesehen. Endlich! Ich führte einen kleinen

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