Zeit im Wind
es dir?«
Erst in dem Moment begriff ich, daß ich nicht mit Angela sprach. Es war Jamie. Beinahe hätte ich den Hörer fallen gelassen. Ich kann nicht behaupten, daß ich froh war, ihre Stimme zu hören. Einen Moment lang wunderte ich mich, woher sie wohl meine Telefonnummer hatte, aber dann fiel mir ein, daß sie bestimmt im Kirchenregister stand.
»Landon?«
»Mir geht's gut«, brachte ich endlich, immer noch ziemlich perplex, hervor.
»Hast du viel zu tun?« fragte sie.
»Geht so.«
»Ach so…«, sagte sie und verstummte. Wieder eine Pause.
»Rufst du mich wegen etwas Bestimmtem an?« fragte ich.
Sie brauchte eine Weile, bis sie die Worte formulierte.
»Ja, also… ich wollte nur mal fragen, ob du Lust hättest, heute nachmittag bei mir vorbeizukommen.«
»Vorbeizukommen?«
»Ja. Bei mir zu Hause.«
»Bei dir zu Hause?«
Ich gab mir keinerlei Mühe, die wachsende Überraschung in meiner Stimme zu verbergen. Jamie beachtete das gar nicht und redete weiter.
»Ich möchte etwas mit dir besprechen. Ich würde dich nicht bitten, wenn es nicht wichtig wäre.«
»Kannst du es mir nicht am Telefon sagen?«
»Das möchte ich nicht so gern.«
»Also, ich wollte heute nachmittag meine Aufsätze schreiben«, sagte ich in dem Versuch, mich herauszuwinden.
»Na ja… also gut… es ist zwar wichtig, aber wir können auch am Montag in der Schule darüber sprechen…«
Da wurde mir klar, daß sie nicht von der Sache lassen würde und daß wir so oder so darüber reden würden. Mein Verstand spielte die verschiedenen Möglichkeiten durch, um zu entscheiden, was ich tun sollte: dort mit ihr sprechen, wo meine Freunde uns sehen konnten, oder bei ihr zu Hause? Obwohl mir keine der Möglichkeiten besonders zusagte, nagte etwas in meinem Hinterkopf und erinnerte mich daran, daß sie zur Stelle war, als ich Hilfe bitter nötig hatte, und das mindeste, was ich tun konnte, war, mir anzuhören, was sie mir sagen wollte. Ich bin vielleicht unverantwortlich, aber wenigstens bin ich nett und unverantwortlich, auch wenn ich es selber sage.
Aber das brauchte natürlich kein anderer zu wissen.
»Nein«, sagte ich, »heute paßt es gut…«
Wir verabredeten uns für fünf Uhr, und der Rest des Nachmittags verrann langsam, wie die Tropfen bei einer chinesischen Wasserfolter. Ich ging um zwanzig vor fünf von zu Hause los und hatte reichlich Zeit für den Weg. Unser Haus lag nahe am Wasser im alten Teil der Stadt, nur ein paar Häuser von dem entfernt, in dem der Pirat Blackbeard gewohnt hatte, mit Blick über den Intracoastal Waterway. Jamie wohnte auf der anderen Seite der Stadt, jenseits der Bahngleise. Zwanzig Minuten würde ich brauchen.
Es war November und wurde allmählich kühler. Was mir an Beaufort wirklich gefiel, waren der Frühling und der Herbst, denn die dauerten praktisch endlos. Im Sommer wurde es etwas heiß, und ungefähr alle sechs Jahre schneite es im Winter; manchmal gab es im Januar eine Kälteperiode, die eine Woche oder so andauerte, aber meistens kam man im Winter mit einer leichten Jacke aus. Heute war einer von diesen wunderbaren Tagen um die fünfundzwanzig Grad und wolkenloser Himmel.
Ich kam pünktlich bei Jamie an und klopfte an die Tür. Als Jamie öffnete, sah ich mit einem Blick, daß Hegbert nicht da war. Da es nicht warm genug war für einen süßen Tee oder eine Limonade, setzten wir uns auf die Stühle auf der Veranda, ohne etwas zu trinken. Die Sonne am Himmel stand schon tief, auf der Straße war niemand zu sehen. Diesmal brauchte ich den Stuhl nicht umzudrehen, denn er war immer noch nicht verrückt worden, seit ich das letzte Mal darauf gesessen hatte.
»Danke, daß du gekommen bist, Landon«, fing sie an.
»Ich weiß, daß du zu tun hast, aber ich bin dir dankbar, daß du dir hierfür Zeit genommen hast.«
»Was gibt es denn so Wichtiges?« fragte ich sofort, um die Sache so schnell wie möglich hinter mich zu bringen.
Zum ersten Mal, seit ich Jamie kannte, wirkte sie nervös, während wir so dasaßen. Immer wieder legte sie die Hände zusammen und nahm sie auseinander.
»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sagte sie ganz ernst.
»Um einen Gefallen?« Sie nickte.
Erst dachte ich, sie wollte mich bitten, mit ihr die Kirche zu schmücken, was sie beim Ball schon erwähnt hatte, doch dann kam mir der Gedanke, daß sie vielleicht das Auto meiner Mutter brauchte, um für die Waisenkinder irgendwas zu transportieren. Jamie hatte keinen Führerschein, und abgesehen davon
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