Zeit im Wind
mußten, um nicht selbst zu würgen. Die Fahrt zu Angelas Haus kam mir extrem lang vor. Ihre Mutter kam zur Tür, warf einen Blick auf ihre Tochter und nahm sie mit ins Haus, ohne auch nur danke zu sagen. Ich glaube, es war ihr sehr peinlich, und wir mußten ihr ja sowieso nicht viel erklären. Was passiert war, lag ja auf der Hand.
Als wir Angela abluden, war es Viertel vor elf, also fuhren wir von dort direkt zu Jamies Haus. Ich war sehr besorgt, weil Jamie nach Angelas Erbrochenem roch und damit besudelt war, und betete insgeheim, daß Hegbert schon zu Bett gegangen sein möge. Ich wollte ihm die Lage nicht auseinandersetzen müssen. Oh, er würde Jamie bestimmt glauben, wenn sie es ihm erzählte, aber ich hatte das bedrückende Gefühl, daß er trotzdem mir die Schuld geben würde.
Ich brachte sie also zur Tür, wo wir unter dem Verandalicht stehenblieben. Jamie verschränkte die Arme und lächelte leicht. Sie sah aus, als wäre sie soeben von einem Abendspaziergang zurückgekehrt, bei dem sie die Schönheit der Natur bewundert hatte.
»Erzähl es bitte nicht deinem Vater«, bat ich sie.
»Das tue ich auch nicht«, sagte sie. Sie lächelte immer noch, als sie sich zu mir umdrehte. »Es war ein schöner Abend. Danke, daß du mich mit zum Ball genommen hast.«
Da stand sie, ihre Sachen mit Erbrochenem beschmiert, und dankte mir doch tatsächlich für den Abend. Jamie Sullivan konnte einen wirklich zum Wahnsinn treiben.
Kapitel 4
In den zwei Wochen nach dem Ball normalisierte sich mein Leben mehr oder weniger wieder. Mein Vater war nach Washington D.C. zurückgekehrt, wodurch der Alltag zu Hause etwas lustiger wurde, hauptsächlich deshalb, weil ich ungehindert aus dem Fenster klettern und mich zu meinen nächtlichen Treffen zum Friedhof schleichen konnte. Ich weiß nicht, was uns an dem Friedhof so sehr anzog. Vielleicht hatte es etwas mit den Grabsteinen zu tun, denn man saß auf ihnen erstaunlich bequem, dafür, daß es Grabsteine waren.
Normalerweise saßen wir auf den Gräbern der Familie Preston, die hier vor hundert Jahren beerdigt worden war. Es gab acht Grabsteine, die kreisförmig angeordnet waren, so daß wir die Erdnüsse bequem herumreichen konnten. Eines Tages beschlossen meine Freunde und ich, etwas über die Familie Preston herauszufinden. Deshalb gingen wir in die Bücherei und sahen nach, ob es da etwas über sie gab. Ich meine, wenn man schon auf dem Grabstein von jemandem sitzt, dann sollte man über denjenigen ruhig etwas wissen, oder?
Es stellte sich heraus, daß in den geschichtlichen Aufzeichnungen nichts Besonderes über die Familie zu finden war, aber ein interessantes Detail entdeckten wir dennoch. Henry Preston, der Vater, war Holzfäller gewesen, obwohl er nur einen Arm hatte. Ob man's glaubt oder nicht. Angeblich konnte er einen Baum genauso schnell fällen wie jeder andere, der noch beide Arme hatte. Ein einarmiger Holzfäller - darunter konnte man sich sofort etwas vorstellen, und deswegen unterhielten wir uns häufig über ihn. Wir überlegten uns, was er sonst noch mit nur einem Arm alles machen konnte, und diskutierten ausführlich darüber, wie schnell er einen Baseball werfen und ob er auf dem Intracoastal Waterway schwimmen konnte. Unsere Gespräche waren nicht gerade sehr anspruchsvoll, aber ich hatte trotzdem meinen Spaß.
Nun gut, an einem Samstag abend saßen Eric und ich mit ein paar anderen Freunden wieder da, aßen Erdnüsse und sprachen über Henry Preston, als Eric mich fragte, wie es mir beim Ball mit Jamie Sullivan ergangen sei. Wir beide hatten uns seither nicht viel gesehen, weil die Football-Ausscheidungsrunde schon angefangen hatte und Eric an den vergangenen beiden Wochenenden bei Auswärtsspielen gewesen war.
»Ach, es war ganz in Ordnung«, sagte ich schulterzuckend und gab mir Mühe, cool zu wirken.
Eric knuffte mich scherzhaft in die Rippen, und ich knurrte. Er war mindestens zwölf Kilo schwerer als ich.
»Hast du sie zum Abschied geküßt?«
»Nein.«
Er nahm einen langen Schluck aus seiner Budweiser-Dose, als ich antwortete. Ich weiß nicht, wie er es schaffte, aber er stieß nie auf Hindernisse, wenn er Bier kaufen wollte. Ich fand das merkwürdig, wo doch jeder in der Stadt wußte, wie alt er war.
Er wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen und sah mich von der Seite her an.
»Ich finde, nachdem sie dir geholfen hat, das Klo sauberzumachen, hättest du sie wenigstens zum Abschied küssen können.«
»Habe ich aber
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