Zeit-Odyssee
vergessenen Stadt, die wahrscheinlich sogar nie existiert hat. Ein Bahnhof.«
»Da könntest du recht haben«, sagte sie nachdenklich.
»Wenn all dies für den Transfer von Frachtgut bestimmt wäre, und nicht nur als Kommunikations- und Personalumschlagplatz …«
»Frachtgut? Welche Art Frachtgut?«
»Ich weiß es nicht. Klingt auch nicht wahrscheinlich, oder? Jeder nur einigermaßen nennenswerte inter-lokale Materialtransfer müßte die Temporalstruktur sowohl am Aufgabe- wie am Empfangspunkt schwächen …«
»Vielleicht war ihnen das gleichgültig. Vielleicht waren sie einfach genau, was ich jetzt bin: müde.« Ich gähnte. »Komm, laß uns schlafen gehen. Vielleicht verwandelt sich morgen vor unseren erstaunten Augen alles in herrliche Logik.«
»Was willst du damit sagen, Ravel? Ich meine, mit dieser Bemerkung, daß dir etwas gleichgültig ist?«
»Wem – mir? Das war nur so hingesagt, Mädchen. Wirklich.«
»Hast du zu Lisa auch immer ›Mädchen‹ gesagt?« Ihr Ton war böse.
»Was hat denn das damit zu tun?«
»Alles hat es zu tun – mit allem! Alles, was du sagst und tust, alles, was du denkst, ist beeinflußt von deiner idiotischen Besessenheit von dieser … dieser eingebildeten Lisa! Kannst du sie nicht einmal vergessen und dich auf die Tatsache konzentrieren, daß der Nexx-Zeitstamm durch deine unverantwortlichen Aktionen in größter Gefahr schwebt – wenn er nicht sogar schon irreparable Schwächen davongetragen hat?«
»Nein«, preßte ich zwischen den Zähnen hindurch. »Noch irgendwelche Fragen?«
»Verzeih«, bat sie mit erschöpfter Stimme. Sie legte eine Hand vors Gesicht und schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich hab’s nicht so gemeint. Ich bin einfach müde … unendlich müde. Und verängstigt.«
»Natürlich«, sagte ich. »Genau wie ich. Nicht weiter schlimm. Gehen wir schlafen.«
Diesmal wählten wir getrennte Zimmer.
23.
Ich erwachte früh; sogar im Schlaf störte mich die absolute Stille. An einem Ende des Schlafraumflügels lag eine gut ausgestattete Küche. Anscheinend hatten sogar die A-P-Theoretiker eine Vorliebe für frische Eier und zuckerglasierten Schinken aus dem Nullzeit-Schrank, in dem nichts alterte.
Ich bestellte per Knopfdruck zweimal Frühstück und wollte gerade zu den Schlafräumen zurückkehren, um Mellia zu holen, als ich auf der anderen Seite der großen Halle Schritte hörte.
Sie stand, in ein loses Gewand gekleidet, neben dem Zeitlenkersessel und beobachtete den Bildschirm. Da ich barfuß war, hörte sie mich erst kommen, als ich etwa drei Meter von ihr entfernt war. Sie fuhr herum, und an ihrem Gesichtsausdruck erkannte ich, daß sie fast einen Herzanfall bekam.
Ich aber auch. Denn vor mir sah ich nicht Mellias schönes, wenn auch mißbilligendes Gesicht, sondern das einer alten, weißhaarigen Frau mit eingefallenen Wangen und blassen Augen, die ehemals, vor langer Zeit vielleicht einmal, strahlend und leidenschaftlich dreingeblickt hatten. Sie schwankte und wäre vermutlich gefallen, hätte ich nicht die Hand ausgestreckt und ihren Arm gepackt, der unter dem fließenden Stoff des Ärmels so dürr wie ein Stück trockenen Holzes war. Sie erholte sich rasch; Zug um Zug glättete sich ihr Gesicht und zeigte gleich darauf einen Ausdruck, der unter den gegebenen Verhältnissen beinahe zu gelassen wirkte.
»Ja«, sagte sie mit dünner, alter, aber sehr ruhiger Stimme, »Ihr seid gekommen. Ich wußte es.«
»Schön, daß Sie uns erwarteten, Ma’am«, antwortete ich hilflos. »Wer hat es Ihnen gesagt? Daß wir kommen, meine ich.«
Sie runzelte kaum merklich die Stirn. »Der Vorhersageschirm natürlich.« Ihr Blick wanderte an mir vorbei. »Darf ich fragen, wo Ihre Begleitung ist?«
»Sie – äh – schläft wohl noch.«
»Sie schläft? Wie sonderbar!«
»Da hinten.« Ich nickte zu den Schlaf räumen hinüber. »Sie wird sich freuen, wenn sie hört, daß wir nicht allein hier sind. Es war ein langer Tag für uns, gestern, und …«
»Verzeihung – gestern? Wann sind Sie denn gekommen?«
»Vor ungefähr vierundzwanzig Stunden.«
»Aber … warum haben Sie mich nicht sofort verständigt? Ich habe Sie erwartet … Ich war bereit … Seit so langer Zeit …« Ihre Stimme brach, aber sie fing sich wieder.
»Tut mir leid, Ma’am, wir wußten gar nicht, daß Sie hier waren. Wir haben das ganze Gebäude durchsucht, aber …«
»Sie wußten es nicht?« Ihre Miene war entsetzt, betroffen.
»Wo haben Sie sich aufgehalten? Ich dachte,
Weitere Kostenlose Bücher