Zeit und Welt genug
gefunden zu haben. Ich suche immer noch nach dem meinen.«
»Knochen, die rollen, setzen kein Fleisch an«, sagte Wass.
Jasmine spürte, dass ihre enge Freundin so vieler Jahre wieder reserviert wurde, sich in ihre Wolke stoischer Lebensanschauung zurückzog.
»Ich bin nicht mehr so sicher, ob Fleisch wirklich viel Wert hat«, gab sie zurück.
»Was dann? Der ›Große Geist‹?« spottete Wass.
»Energie, vielleicht. Hast du in deinen dreihundert Jahren nie ein Gefühl für die Einzigartigkeit des Universums bekommen?«
»Doch, solche Gefühle hatte ich, aber ich lege mich immer hin, bis sie vergehen.« Sie lachte. Die Kälte, die sich auf die beiden gelegt zu haben schien, verschwand. Als sie weitersprach, war es, als hätte sich eine unnennbare Spannung zwischen ihnen behoben und Frieden hinterlassen. »Energie ohne Substanz, ohne Fleisch – das ist nichts, Jazz. Was im Universum Bedeutung hat, ist die Materie. Energiefluss, Einssein, Singularitäten – sinnlose Gedanken sind das, leere Meditationen. Materie ist das Ding an sich. Ohne sie kein Raum, keine Zeit, kein Ding, kein Gedanke. Sie ist alles.« Sie streckte die Hand aus und legte sie auf Jasmines Brust; maß, wog, bedachte und betastete, sank dann zurück und schloss die Augen, den Mund verzogen.
Jasmine lächelte sie an.
»Die Philosophin – wieder einmal high.«
»Völlig auf dem Gipfel. Aber das Opium lässt meine Wolke sprießen.«
Jasmine stand auf.
»Es war schön, dich wieder zu sehen, Wass, aber meine Knochen müssen rollen.«
»Du legst dich mit dem neuen Tier an, nicht?«
»Vielleicht. Wenn ich meinen Freunden geholfen habe, ihre Angehörigen zu finden.«
»Ich wünsche euch allen viel Glück. Um ganz ehrlich zu sein, mein Teflon-Herz wäre froh, das neue Tier sterben zu sehen. Mir gefällt nicht, was ich von ihm höre.«
»Nämlich?«
»Ach, nichts Bestimmtes. Ich fürchte aber, sie machen einen Kult daraus. Der innere Kreis nennt sich sogar LOS ANGELES – Assoziierte Neuromensch-Genetik-Erfinder, Lords et Seher.«
»Na, hochtrabend genug, um ein Kult zu sein. Aber worauf beruht die Macht?«
»Auf dem Tier.« Sie stand auf.
Die beiden Neurofrauen standen einander gegenüber, vereint durch alles, was sie gemeinsam erlebt hatten, getrennt durch das, was jeder allein gesehen hatte, verbunden durch Wellen von Dunkel und Licht.
Ihre Hände berührten sich.
In diesem Augenblick öffnete sich der Vorhang, und herein kamen Joshua, Beauty und Isis. Die Katze ging sofort zu einem Polster in der Ecke. Sie ließ sich nieder und leckte stumm ihre Pfote. Josh und Beauty standen angespannt am Eingang.
Jasmine sah von einem zum anderen.
»Also?« fragte sie.
»Wir haben den Greif gefunden«, erwiderte Josh. »Bal hat unsere Leute zur Festung des neuen Tieres geschafft. Der Vampir lebt dort. Er behielt einige Gefangene für sich, die anderen übergab er dem Tier.«
»Der Greif?« sagte Jasmine.
»Der Greif ist tot«, sagte Beauty tonlos.
Josh starrte auf den Boden.
Wass blickte tief in Joshs Trostlosigkeit.
»Nichts ist süßer als die Verfolgung der Rache«, sagte sie, »nichts hohler als der Erfolg.«
Josh richtete seinen Zorn nach außen.
»Die Welt ist ein besserer Ort ohne dieses Untier.« Schweigen umgab ihn.
Wass’ Augen waren schmale Schlitze. »Wie hieß der Greif?«
»Skri«, sagte Joshua.
Wass’ Brauen stiegen in die Höhe.
»Dann trinkt, bitte, noch ein Glas auf Rechnung des Hauses, bevor ihr geht«, sagte sie. Sie verbeugte sich und führte sie an die Bar. »Einaug«, sagte sie zu dem Zyklopen-Barmann, »ein Glas für meine Gäste auf den Heimweg.« Sie verbeugte sich noch einmal und verschwand in ihrem Hinterzimmer.
Im Lokal herrschte reges Treiben. Vampire, Satyre, Menschen, Harpyien, Furien, Teufel, Groteskzwerge und Gemischtwesen jedes Phänotyps tranken, spielten und konspirierten vom Erdgeschoß bis zum Dachboden. Jasmine, Josh und Beauty standen an der Bar und tranken Kaffee, während Isis wachsam am Ausgang saß. Josh erzählte Jasmine kurz von seiner Begegnung mit den Bücher-Leuten, dann von Isis’ Bericht, wonach sie – soweit Josh das aus der nicht leicht zu verstehenden Katze herausgebracht hatte – die Jagd hier aufgegeben hatte, in der Meinung, Josh sei höchstwahrscheinlich tot. Sie hatte ein ziemlich ›lannngweiliges‹ Dasein als streunende Katze geführt und den Greif im Auge behalten, von dem sie wusste, dass er für Joshuas Verschwinden verantwortlich sein musste, bis ihr plötzlich
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