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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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auf der Dschunke; sie blickten hastig auf die sechzehn Kompaßpunkte und ließen mit harten Nachtaugen den Blick über das Meer streifen. Nichts unterwegs.
     
    Die Sonne stieg hinter einem Ansatz grauer Gewitterwolken hoch.
    Jasmine fühlte sich körperlich kräftig. Ihre beiden Finger funktionierten zwar nur zeitweise, aber sonst hatte sie sich völlig erholt. Aber sie fühlte sich auf einmal sterblich. Sie war beinahe gestorben. Gestorben. Verblutet. Tot. Sie beschäftigte sich mit dem Wort und versuchte zu erkennen, was es bedeutete. Ringsum war leere See bis zum Himmel, dann leerer Himmel wieder bis zur See hinab. War so der Tod? Ein leeres, schwebendes Schwanken. Es war etwas, womit sie sich seit über zweihundert Jahren kaum beschäftigt hatte, aber nun war sie innerhalb von vier Monaten beinahe zweimal verblutet. Tot.
    War das ein Zeichen, dass sie vorsichtiger sein musste? Zurückhaltender, vielleicht. Nein, das war undenkbar. Ein Leben, von Vorsicht bestimmt, war kaum lebenswert.
    Die Wolken, die den Tag eingeführt hatten, verschwanden im Osten. Die Sonne und das schaukelnde Wasser beruhigten mit der Zeit ihr Gemüt. Sie schloss die Augen und dachte an nichts.
     
    Beauty hielt Ausschau nach der Küste. Land, das bedeutete Rose, das Ende der Reise. Es belebte ihn, so nah zu sein. Er war froh, die Stadt hinter sich zu haben, froh, wieder im Gleichgewicht mit der Natur zu sein, froh, in guter Gesellschaft weiterzuziehen. Die See war nicht der Ort, wo er sich am liebsten aufhielt, aber für Beauty war im Augenblick alles im Lot mit der Welt.
    Er schoss einen Pfeil auf einen Thunfisch ab, der zu nah an der Oberfläche schwamm, und als er zuckend heraufkam, zog Beauty ihn aus dem Wasser. Der Pfeil war durch den Fischkopf gedrungen. Er zerlegte den Fisch, und die Besatzung hatte ein Festmahl.
     
    Isis hatte sich noch nie so krank gefühlt. Sie war jetzt wenigstens von der Sonne trocken, aber ihr war so übel, dass sie an gar nichts denken konnte – nicht einmal an Thunfisch. Sie hoffte, dass sie bald an Land gehen würden. Selbst Gassennahrung war besser als dies. Sie beobachtete ihren geliebten Joshua, der friedlich im Bug schlief. Wie gut, wieder mit ihm zusammenzusein, trotz dieser Wasserhölle. Sie sah auch Jasmine schlafen. Die Neurofrau schlief nicht friedlich, sondern warf sich hin und her und stöhnte, als ringe sie mit Schlafwesen. Isis bedauerte die verstörte Neurofrau, die sie sehr mochte, ohne zu wissen, warum. Sie ging schwankend über das Boot, setzte sich neben Jasmines Kopf und begann still und methodisch, ohne Eile, das Gesicht der Neurofrau abzulecken.
     
    Wass stand an der Reling. Das Leben war wahrhaftig seltsam. Jasmine hatte sie nach Ma’ Gas’ gebracht, sie dort allein gelassen, war ein Jahrhundert später wiedergekommen, um sie fortzuholen. Sie hatte das Gefühl, auf einer trägen, unaufhaltsamen Flut ihr Leben zu verbringen, wie auf diesem kleinen Schiff hier. Winde, Strömungen, Dünung. Ma’ Gas’ war eine Flaute geworden, aus der sie eine Springflut gerissen hatte. Was steht bevor? fragte sie sich. Unterströmungen, Taifune, Mahlströme, Windstille. Wie wenig konnte man mit Segel und Pinne gegen die Launen der Tiefe ausrichten!
     
    Sie hatten gegessen; alle waren wach. Der Tag war kraftvoll, die See unergründlich. Das kleine Schiff schwankte winzig klein wie ein verlorener Gedanke.
    Aber sie waren zusammen. Alle spürten das, gestanden es stillschweigend ein, vor sich und vor den anderen. Eine Zeitlang fühlten sie sich erhoben vom undurchdringlichen Frieden ihrer Vereinigung, und es spielte keine Rolle, dass sie nur ein winziges Fleckchen im Bauch des tobenden Universums waren. Sie waren ein Organismus. Sie waren in ihrer Zusammengehörigkeit riesig.
     
    Die Gewitterwolken kamen zurück. Die See rollte das bebende Boot über aufschwellende Wellen, die sich nie ganz brachen. Wass versuchte sie zum Ufer zu steuern, aber im umspringenden Wind kam sie kaum voran. Sie nahmen Wasser auf.
    Josh und Beauty schöpften Wasser. Wass reffte das Segel, Jasmine saß an der Pinne. Isis starrte kalt und beklommen in die wartende Tiefe. Fast eine Stunde lang rangen sie mit dem zornigen Meer, errieten Windwechsel, richteten den Bug immer wieder gegen die Wellen, machten sich auf rasche Zerstörung gefasst. Sie waren alle so vertieft, dass keiner das riesige Schiff wahrnahm, bis es sie beinahe erreicht hatte.
    Ein sonderbares Schiff.
    Hunderte von Palmenstämmen, Seite an Seite, Ende an Ende

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