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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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ihn weiter nicht. Sie war, was sie war, und er ebenso; nichts daran konnte den anderen stören. Trotzdem bedauerte er, dass ihr Leben in Rauch aufgegangen war – diesen Zustand kannte er, und das war auch der Grund, warum er die Neurofrau ansprach, die sonst sehr zurückhaltend wirkte.
    »Ich entschuldige mich ebenfalls für die Umwälzung in deinem Leben. Ich weiß, was es bedeutet, sein Heim durch Feuer zu verlieren. Trotzdem kann ich nicht bedauern, dass so viele bösartige Tiere umgekommen sind, und unsere Suche ist gefördert worden. Das hat gewiss sein Gutes.«
    Wass lächelte schwach.
    »Wie gesagt, ich will nicht mehr darüber reden. Lass mich nur Long-Tschen Pa zitieren, einen Vorfahren von mir, bei dessen Weisheit ich oft Zuflucht gesucht habe, seitdem ich in dieser Stadt bin: ›Da alles nur Schein ist und mit Gut oder Böse nichts zu tun hat, darf man wohl in Gelächter ausbrechen.‹«
    Sie lächelte, gluckste kurz, holte den Anker auf, und das kleine Schiff fuhr nach Westen, vom Herbstwind getrieben.
     
    Als sie die Bucht hinter sich hatten, fuhr die Dschunke nach Südwesten über den Pazifik. Sie war trotz der geringen Größe seetüchtig und folgte den Winden unter dem gleißenden hellen Himmel ohne Mühe.
    Die Reisenden lagen an Deck und ruhten sich aus. Sie wechselten sich am Ruder ab, ebenso, unter Wass’ Anleitung, am Segel. Sie fingen Fische, erzählten sich Geschichten, pflegten Brandwunden, dösten – gewannen neue Kraft. Meistens sannen sie vor sich hin und betrachteten das grüne Kristalljuwel des Ozeans, das bis hin zum Horizont glitzerte. Und die ganze Zeit über schob der Wind sie mühelos nach Süden.
    Unterwegs riefen Meeresvögel ihnen Grüße zu. Delphine begleiteten das Schiff, bis sie andere Belustigung fanden. Zweimal tauchten in der Ferne Schiffe auf, zweimal verschwanden sie hinter der sanften Wölbung des Horizonts. Langsam verging der Tag, voller Frieden.
    Als es dunkelte und das Wasser im niedersinkenden Zwielicht violett schimmerte, erlag Josh still einem neuerlichen Rätsel-Anfall.
    Erschreckende, leere Schwärze. Ein hohler, elektrisierender Wind blies von innen hinaus. Aus den Tiefen ein Licht: zuerst punktklein, dann anschwellend, pulsierend, ansaugend. Bis der Stern dann – schwere Grellheit erfüllte die Leere bis fast zu den fernsten Winkeln – als massiver, weißglühender Magnet Josh in sich aufsaugte und er zum ersten Mal den Mittelpunkt sah: eingetaucht in den blendenden Glanz der Umriss eines Gesichts.
     
    Josh wurde wach und zuckte hoch. Ringsherum standen seine Freunde mit erschreckten Gesichtern. Ihre Hände drückten ihn auf das Deck nieder. »Du hattest Krämpfe«, flüsterte Jasmine. »Du hast dir weh getan. Jetzt geht es dir wieder gut.«
    Er schloss die Augen. Was ging mit ihm vor. Er durfte nicht ins Stocken geraten, so kurz vor dem Ende seiner Jagd. Schlaf erschreckte ihn jetzt. Er durfte nicht schlafen. Aber die Strapazen machten ihn so müde.
    Er war auch nicht der einzige. Lewis von der Bucherei hatte diese Anfälle ebenfalls. Und andere auch noch, hatte man ihm erklärt. Woher kam das? Alle seien unterwegs nach Süden, hatte es geheißen; während er hier dahintrieb. Er dachte an das Gesicht, das er in seinem letzten Trancezustand gesehen hatte, das Gesicht im Licht. Ein fremdes Gesicht, da und doch nicht da, schrecklich und zwingend. Ein inneres Antlitz.
    Er spürte, dass er wieder in Schlaf versank. Und wer waren diese Bücher-Leute? David, Paula, Lewis und die anderen. Hinter dem neuen Tier her, sagten sie. Eine geheime Gesellschaft in einer geheimen Gesellschaft. Trau keinem, hatten sie gesagt. Aber das war nicht richtig. Er vertraute Beauty und Jasmine, Rose und Dicey. Nur den Nächsten, hatten sie gesagt. Aber wer waren die? Warum hatten manche Anfälle wie die seinen? Was bedeutete das alles? Wo lag der Sinn?
    Er ließ sich versinken; länger konnte er sich nicht wehren.
     
    Kühle Brise über den Nachtwellen. Runder Mond, einsame Wolken. Die Kameraden saßen oder standen an der Reling, sahen fliegende Fische das silbrige Wasser durchstoßen, wie geheime Gedanken, die aus dem Ur-Bewusstsein der Erde hochzuckten. Die Beobachter hofften auf Zeichen, aber die Fische tauchten sofort unter und ließen das Gesicht der endlosen See unberührt.
    Einmal, mitten in der lautlosen Nacht, kam ein Geräusch. Ein Heulen oder Stöhnen, ein gedehnter, tiefer, klagender Laut, der sich aus dem Wasser erhob und die Sterne anflehte. Er erregte die Seefahrer

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