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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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sie, während sie den lichtlosen Tunnel entlanghuschte. Der Schacht wand und krümmte sich, aber Isis stolperte nicht einmal. Sie schien instinktiv zu wissen, welche Tunnels sie begehen, welche sie meiden musste. Einmal unterbrach sie ihren Weg, um eine Ratte zu töten, spielte aber nicht lange damit. Ich habe Besseres zu tun, Miesezahn, sagte sie zu der sterbenden Ratte und ging weiter.
    Sie wusste, nach der Witterung oder mit einem besonderen Katzensinn, dass ihr geliebter Joshua am Ende eines der Schächte wartete.
     
    Lautlos hob Joshua den Deckel über diesem Schacht. Der Raum war leer. Er stieg hinauf.
    Es war ein Saal mit Dutzenden von Tischen und Bänken. An der Decke verliefen lange Leuchtröhren mit dunkelviolettem Licht. Josh kam es vor, als wirke wieder ein fremder Zauber auf ihn. Auf mehreren Platten brodelten Flaschen mit Flüssigkeit, beheizt durch orangerote Spulen. An einem Drahtkäfig in der Ecke stand: HOCHSPANNUNG – GEFAHR.
    Er untersuchte alles und verstand wenig. Es gab zwei Türen. Auf der einen stand OPERATIONSSAAL, auf der anderen nichts. Er öffnete die beschriftete Tür und ging hinein. Der Raum war kleiner. Auch hier kein Leben. Zwei riesige Lampen hingen von der Decke auf zwei große Stahltische herab. Auf einem Unterschrank an einer Wand lagen Instrumente in Reihen: Skalpelle von der Art, die Jasmine gestohlen hatte, Scheren, Nadeln, seltsame Geräte, die Joshua nicht erkannte. In der Ecke stand ein großer Glasballon. Josh starrte im scharfen, blauen Licht hinein. Der Behälter war mit klarer Flüssigkeit gefüllt. In verschiedenen Tiefen schwammen Menschenkörper. Josh hielt den Atem an und wandte sich ab.
    Er musste weiteratmen. Zwei kleinere Tanks standen neben dem ersten großen, waren aber leer. In der Mitte eines Tisches lag eine summende Stahlkugel. Joshua wagte sich nicht heran. Weitere Türen gab es hier nicht. Josh ging wieder hinaus.
    Im ersten Saal entdeckte er einen Kasten voll elektrischer Geräte. Er kramte, konnte aber nichts mit ihnen anfangen. An der Wand hing eine schematische Darstellung von großem Umfang. ›Das menschliche Nervensystem‹. Sie zeigte ein Gehirn und das Nervengeflecht, das sich anschloss. Darunter lag auf einem Schreibtisch ein riesiges Buch: ›Atlas des menschlichen Gehirns‹. Joshua blätterte darin, verstand aber wenig. Er ging zu der unbeschrifteten Tür in der anderen Wand und öffnete sie.
    Dahinter befand sich ein kurzer Korridor mit zwei weiteren Türen. Er versuchte die erste Tür zu öffnen. Sie war abgeschlossen. Auf der zweiten stand: TIEFKÜHLUNG MENSCHEN. Er öffnete sie.
    Vor sich sah er einen kleinen leeren Vorraum, von dunkelrotem Licht erfüllt. In der Rückwand waren drei Türen eingelassen, alle beschriftet: VORBEREITUNG, NIRWANA und VEREINIGUNG. Josh öffnete die erste Tür.
    Er erstarrte und zog heftig den Atem ein. In einem riesigen Raum lagen Hunderte von Glassärgen, Reihe um Reihe, in jedem Sarg ein Mensch. Josh trat langsam vor.
    Im unnatürlichen Licht sahen sie unheimlich aus: bläulich, eingefroren, reglos. An den Innenseiten der Särge hing Reif; alle Behälter waren über Rohrleitungen mit dem Boden verbunden. Josh ging wie in Trance an den Reihen entlang und starrte in die unbewegten Gesichter. Alle schienen friedlich zu schlafen, alle waren jung. Josh ließ kein Gesicht aus. Es war keines darunter, das er kannte.
    Er ging hinaus in den Vorraum und trat an die mittlere Tür. NIRWANA. Er trat ein.
    Der Raum entsprach dem ersten, Reihe um Reihe eingefrorene Menschen unter Glas. Er begann mit seinem Trauermarsch durch den ersten Zwischengang und starrte jedes Gesicht mit wachsender Furcht und schrumpfender Hoffnung an.
    Die sechste Leiche in der Reihe glaubte er zu erkennen – sie hatte Ähnlichkeit mit Lewis, dem dicken Jüngling aus Ma’ Gas’, der Anfälle gehabt hatte wie er selbst. Josh blieb stehen. Der Reif an der Innenseite behinderte den Blick. Er beugte sich tiefer herab. Es war wirklich Lewis. Bläulich-weiß der ganze Körper, unglaublich glatt. Wie eine Marmorstatue. Joshuas Herz schlug schneller. Er schaute noch schärfer hin. Was er sah, ließ beinahe sein Herz stillstehen: Die Oberseite von Lewis’ Schädel fehlte, säuberlich über der Stirn abgesägt; er hatte kein Gehirn mehr. Sein Gehirn war verschwunden. Herausgenommen worden. Fortgebracht. Gestohlen.
    Joshuas Augen weiteten sich vor sprachloser Wut. Er lief rasch zum nächsten Glassarg, zum übernächsten, zum dritten: Bei allen Leichen

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