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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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und verwirrt und entsetzt zuschaute.
    Josh stand da, das Skalpell in der Hand.
    Bal öffnete seine Schwingen zum Angriff. Er blickte auf das Messer hinunter, das aus seiner Brust ragte, dann starrte er Josh ungläubig und wutentbrannt an. Er zog das Messer heraus und ließ es auf den Boden fallen. Blut spritzte heraus aus dem schmalen Loch, das zurückgeblieben war.
    Bal fauchte und zeigte das rituelle Grinsen. Josh duckte sich. Bal flog mit seiner ungeheuren Kraft auf den Gegner zu, stieß mit einem Hieb das Skalpell weg und schlug die Reißzähne tief in Joshuas Hals.
    Josh hatte noch nie solche Schmerzen verspürt. Die Zähne des Vampirs waren wie elektrisch geladene Dolche, die Wellen höchster Qual durch seinen ganzen Körper jagten. Sie lähmten ihn, blendeten ihn. Trotzdem empfand er die Schmerzen ganz. Nerventod. Todesqual.
    Sie hatten sich umschlungen und rollten auf dem Boden hin und her. Josh nahm dumpf wahr, dass Leute ringsum auseinander stoben oder wimmerten oder vor Angst erstarrt waren. Er schob das alles beiseite. Mit dem Rest seiner Kraft stieß er Bal das Knie zwischen die Beine hinauf. Der Griff des Vampirs lockerte sich.
    Im selben Augenblick fühlte Josh schwache Menschenhände, die ihn von dem blutenden Vampir wegreißen wollten. Er schleuderte den Menschen ohne Mühe an die Wand und stieß gleichzeitig das Kinn Bals von sich fort. Der Vampir hieb vier scharfe Krallen in Joshuas Arm, aber Josh spürte keine Schmerzen mehr. Er sah neben seiner Hand ein abgebrochenes Stuhlbein und schlug es Bal auf den Schädel, ein zweites-, ein drittesmal, immer wieder.
    Dann war es plötzlich vorbei. Josh setzte sich auf. Neben ihm auf dem Teppich lag Bal und war tot. Die Stichwunde in der Brust des Vampirs blutete nicht mehr; er hatte kein Blut mehr in sich; das besudelte alles den Boden.
    Joshua dagegen blutete stark aus seiner Halswunde. Er presste ein kleines Kissen auf die Wunde und kroch durch das Zimmer zu Dicey.
    Sie lag halb ohnmächtig am Boden und blutete immer noch leicht aus ihren eigenen Halswunden. Er nahm sie in die Arme, umschlang sie am Boden. Sie blieb schlaff. Er presste sein Gesicht an ihr Gesicht, seinen Hals an ihren Hals. Wunde an Wunde bluteten sie ineinander.
    Er setzte sich an der Wand auf und legte sie auf seinen Schoß. Ihre Lider öffneten sich zuckend. Sie blickte in sein Gesicht, als sei es eine unerwartete Erinnerung aus einem anderen Leben. Dann starb sie.
    Josh konnte den Sinn dieses Augenblicks nicht begreifen. Nach all den Monaten der Jagd und Abenteuer, so weit gelangt zu sein, um die Liebste in seinen Armen sterben zu sehen, vor dem verwirrten Blick der Sklaven, mitten in einer Stadt von Vampiren am Rand des Dschungels, am Rand eines Ozeans, am Rand einer Wüste – wo war der Sinn? Was die Lehre? Er atmete ein paar Mal tief, bodenlos tief ein, fand aber nicht genug Luft für seinen hohlen Brustkorb. Sein Kopf war pure Wirrnis, voll von kreisenden Gedanken und Visionen, die nicht genug Platz in ihm zu haben schienen – es war, als müsse sein Schädel platzen. Und doch blieb er sitzen. Völlig regungslos starrte er ins Leere. Er unternahm einen Versuch, konnte aber nicht einmal weinen.
    Er bemühte sich, seine Fassung wieder zu finden, während die entsetzten Zuschauer, Bals Harem, an den Türen glotzten. Niemand sagte etwas, niemand regte sich. Die Zeit selbst schien erstarrt zu sein. Nach einer langen Pause schob sich ein kleiner Junge hindurch und ging zögernd auf Joshua zu.
    Josh hob den Kopf. Sein Gesicht wurde weich.
    »Ollie?« flüsterte er. Die Lippen des Jungen zitterten. »Ollie«, wisperte Josh noch einmal und presste den Jungen an sich, als wolle er ihn zerdrücken.
    Schließlich schob er ihn von sich.
    »Ollie, wie geht es dir?« fragte er. »Alles in Ordnung? Jetzt kann dir nichts mehr geschehen.« Freude überflutete ihn. Er hatte etwas bewirkt. Sein Bruder war in Sicherheit.
    Ollie lächelte so breit, dass es zur Grimasse wurde. Er umarmte Josh noch einmal. Er nickte heftig, brachte aber kein Wort heraus.
    Josh drückte den Jungen immer wieder an sich, streichelte seinen Kopf und sagte: »Ja, ja. Jetzt kann dir nichts mehr geschehen.« Er stand schließlich auf und schaute sich nach der stummen Gruppe um. »Ihr seid alle gerettet«, sagte er. »Ich nehme euch mit. Wir gehen sofort.«
    Sie starrten einander unsicher an. Ihr Herr lag tot am Boden. Sie waren frei. Schlagartig redeten alle durcheinander.
    Manche waren begeistert, andere entsetzt, einige

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