Zeit und Welt genug
Wanderer gingen hintereinander auf einer schmalen Wildfährte, die sich nach Osten zum Spiegelsee schlängelte. Beauty ging voran, gefolgt von Jasmine. Josh war die Nachhut. Isis lief zwischen Josh und Jasmine hin und her, blieb plötzlich stehen, verhedderte sich in den Beinen des einen und stürmte listig zum anderen zurück. Summina, die in den Frühlingsblumen sechstausend Ablenkungsgründe fand, war selten zu sehen – obschon nicht selten genug für Isis, die bei jeder Gelegenheit nach dem Flatterling hieb.
Joshua hatte Zeit genug, Jasmine von hinten ausführlich zu betrachten. Glatte, gut abgezeichnete Muskeln formten ihre Beine von den Füßen – die nackt waren – bis zur Mitte der Oberschenkel. Um die Schultern hing ein mittellanger Umhang, grün und braun gesprenkelt. Darüber floss ihr orangerotes Haar wie Lava herab.
Sie stachelte Joshs Neugier auf. Sie deutete vieles allein mit dem Körper an – die Art, wie sie sich hielt, mit kühler, entschiedener Sicherheit, die erkennen ließ, dass es Dinge an ihr gab, die man nicht sehen, vielleicht nicht einmal ahnen konnte. Dazu kamen auch die Legenden über die Neuromenschen, die Mythen: Sie seien unsterblich, behaupteten manche; Teufel, schworen andere; sie besäßen geheime Mächte und Mittel.
Josh hatte, soviel er wusste, vorher noch nie einen Neuromenschen getroffen. Jemanden wie Jasmine hatte er gewiss nicht erwartet. Nachdem er eine Stunde hinter ihr hergegangen war, nach langen inneren Debatten, und nachdem der Kitzel die Oberhand über die Schüchternheit gewonnen hatte, holte er sie ein und fragte: »Bist du wirklich zweihundertfünfzig Jahre alt?«
Sie drehte den Kopf kurz zur Seite, lächelte und ging weiter, um mit Beauty Schritt zu halten.
»Fast dreihundert«, erwiderte sie. »Geboren bin ich 1986 A.D. Das war ein Jahr großer Veränderungen, großen Wandels. Weißt du, was in diesem Jahr geschehen ist?«
Josh schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht viel außer phantastischen Geschichten und Lagerfeuer-Märchen über die Zeit vor dem Eis.«
»Das Eis, ja. Gleich nach dem Großen Beben im Jahr 2191«, sagte sie versonnen. »Manche Leute haben das vorausgesagt, weißt du, aber es wurde viel vorausgesagt, was nie eintraf. Was kann man schon sagen? Jedenfalls war 1986 das große Atomkraftwerk-Unglück, im Osten, bei dem mehr als eine Million Menschen umkamen. Ich erinnere mich natürlich nicht persönlich, da war ich erst auf die Welt gekommen, aber die Leute sprachen bis lange in die nächste Generation hinein mit Tränen in den Augen davon. Anti-Atom-Terroristen besetzten die Anlage in Oceanspring und drohten damit, sie in die Luft zu sprengen. Die Regierung schickte ihre Anti-Terrorismus-Einheiten, aber das Ganze flog doch in die Luft. Eine Million Tote. Bei Neptuns Mittelflosse, wenn dies nicht das Ende der Atomkraftwerke war. Kein Zweifel.«
Beauty blickte kurz hinter sich. Er glaubte, klar genug gemacht zu haben, dass er Unterhaltung auf der Jagd nicht schätzte. Außerdem war sein Gefühl für Schicklichkeit zumindest ein wenig betroffen von dem Ausdruck, den Jasmine gebraucht hatte – eine etwas herabsetzende, grob sexuelle Anspielung auf einen legendären Teil von Neptuns Anatomie. Nicht, dass er an Neptun geglaubt hätte, aber von Unschicklichkeit hielt er auch nichts. Die anderen bemerkten aber sein böses Funkeln nicht. Er lief weiter. Der Pfad war nun von Ranken und einer Laubdecke überwuchert, so, als sei er hier wenig benutzt worden. Der Zentaur ließ sich nicht aufhalten.
»Was ist ein Atomkraftwerk?« fragte Joshua. Er hatte das Wort wohl schon einmal gehört, war sich seiner Sache aber nicht sicher. Auf irgendeine Weise hatte er den Eindruck, dass es wie die Form eines Giftpilzes aussehen musste.
»Schon von Uran gehört?« fragte Jasmine, während sie auf dem Laub dahinrutschten.
»Uran?« sagte Josh.
»Schon gut«, meinte Jasmine lachend. »Macht nichts. Es kann nur gut sein, wenn niemand mehr herausbekommt, was Atomenergie ist. Aber eigentlich traurig, sich vorzustellen, was an Geschichte alles verloren gegangen ist.« Jasmine hatte die letzten fünfzig Jahre ihres Lebens mehr oder weniger allein verbracht – mit endloser Erforschung dieser abenteuerlichen neuen Welt –, bewusst allein, auf herrliche Weise allein. Sie hatte aus ihren ersten zweihundertfünfzig Jahren von anderen Leuten so genug, dass es für viele Lebensspannen reichen würde.
Aber in letzter Zeit, erst in der allerletzten, hatte sie sich
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