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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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Kulturträger. Einen Tag später war ich nur mehr ein Knollenhirn, an dem der Hirnstamm und die dünnen Verzweigungen meines gesamten Nervensystems hingen.
    Dann begann der Wiederaufbau. Direkte Osmose von Sauerstoff und Glukose in der eigens zubereiteten Lösung, in der ich schwamm, hielten mein Hirn und die Anschlüsse am Leben, während rund um die Uhr tätige Operationsteams mikrochirurgisch Nerv an Draht, Nerv an Kraftwandler, Draht an Sensor befestigten. Die grundlegende lebensrettende Operation nahm eine Woche in Anspruch – Herz anschließen, Lungenflügel und so weiter. Die Feinarbeit – Muskulatur, Platikhaut, Nahrungszufuhr, Stimme – dauerte über ein Jahr. Aber ich kam dort als neue Frau heraus. Einer der ersten erfolgreichen neurogelungenen Neuromenschen.
    Natürlich gab es auch Schwierigkeiten, Dinge, an die man sich gewöhnen musste. Mein Tastgefühl war unzureichend, manchmal taub, manchmal schmerzhaft. Schmecken konnte ich überhaupt nicht, obwohl es darauf kaum ankam, weil ich nur einfachen Zucker essen konnte. Mein Gleichgewichtsgefühl war miserabel. Nachfolgende Operationen änderten das natürlich alles – wir profitierten alle von den Verbesserungen im Lauf der Jahre – und viele meiner Mängel wurden behoben. Mein Speiseplan erweiterte sich, meine Sinne wurden empfindlicher. Zum Beispiel wurden meine Augen viel besser als Menschenaugen – obwohl ich sagen muss, dass die Bilder eigenartig waren und man sich an sie erst gewöhnen musste. Meine Haut war viel widerstandsfähiger. Mein Herz wurde von einer Plutoniumzelle angetrieben und würde weiterschlagen, lange nachdem mein Herz tot war. Und mein Gehirn wurde mit einer Lösung durchtränkt, die einen Stammverwandten von BHT enthielt, einem Konservierungsmittel, das schon in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts entdeckt worden war, um das Leben von Nervenzellen zu verlängern. Mein Gehirn würde tausend Jahre leben können, wenn die Tierversuche ein Anhaltspunkt sein konnten.
    So lief ich also herum, stolpernd wie ein Kleinkind. Die erste Generation einer neuen Rasse. Kinder konnte ich freilich nicht bekommen. Man vermochte mich nicht einmal zu klonen. Nervenzellen kann man nicht klonen. Aber da war ich, da war ich.«
    Sie schloss die Augen, um das alte, vergilbte Bild dessen, was sie gewesen war, deutlicher sehen zu können. Beauty starrte sie in stummer Bewunderung an, fassungslos vor ihrer Tapferkeit, ihrer Feigheit, ihrer Todesqual. Sie öffnete die Augen.
    »Schade, dass ich nicht mehr weinen kann«, sagte sie. »Das wird wohl keine sehr nützliche Funktion sein, wenn man kein Mensch ist.«
    Josh griff hinüber und berührte zart ihre Hand. Das weckte sie aus ihrer Versunkenheit.
    »Natürlich«, sagte sie. »Natürlich wollten nun viele Menschen sich dieser Operation unterziehen. Andere medizinische Zentren begannen damit, aber die Methode war teuer und zeitraubend, und obwohl man sie im Lauf der Zeit verbesserte – man stellte viel fortschrittlichere und elegantere Modelle her als mich –, gab man sie schließlich auf. Ich glaube, dass im ganzen an die zweitausend Neuromenschen konstruiert wurden. Wie viele es davon noch gibt, weiß ich nicht. Das ist jedenfalls der Grund, weshalb Neuromenschen so lange leben.«
    Es blieb lange still. Draußen wehten leise Waldgeräusche um den Höhleneingang, aber sie drangen nicht ein. Eine Spinne kletterte lautlos an der Wand hinauf, sah, dass das nicht der richtige Augenblick war, und verschwand wieder in ihrer Spalte.
    Josh sagte: »Und als wir dich fanden …«
    »Verblutete ich. Normalerweise brauche ich nur alle fünfzig, sechzig Jahre eine Neufüllung Hämo-Öl, wenn mein Ventil nicht auf diese Weise geöffnet wird. Ich habe aber um die fünfhundert Dosen entlang der Küste vergraben, für den Fall, dass mir der Stoff einmal ausgeht. Man stellt ihn natürlich nicht mehr her.«
    Während der Erzählung hatte Beauty ein inneres Nagen gespürt, ein unklares Unbehagen, das mit der Geschichte selbst nichts zu tun hatte. Er konnte es auch nicht klar fassen, aber es wuchs oder übte nur Druck aus, und jedes Mal, wenn er zupacken wollte, wich es aus. Jetzt, in der Stille danach, bekam er es zu fassen.
    »Und von welchem abgelegenen Kontinent sind die Zentauren hierher ausgewandert, nachdem sie mit diesen großen Plänen noch nichts zu tun hatten?«
    Jasmine sah Beauty mit dem weichen, traurigen Blick einer widerstrebenden Mutter an, die ihrem Kind sagen will, woher die Kinder wirklich

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