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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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kommen.
    »Es war eine Zeit der Dekadenz«, sagte sie. »Im wahrsten Sinne des Wortes. Die Gesellschaft zerfiel. Dinge hauen sich zugetragen, die der menschlichen Rasse die Nähe, die Unmittelbarkeit des Todes ganz bewusst machten. Die Strahlungskrankheit breitete sich unaufhaltsam aus, wie sie wollte. Es war nachweisbar nicht möglich, langes Leben zu erwerben, indem man moralisch oder vernünftig oder produktiv oder auch nur reich war. Gleichzeitig aber unterzogen sich manche Menschen Operationen, die, wenn erfolgreich – übrigens starben achtzig Prozent auf dem Operationstisch –, praktisch Unsterblichkeit versprachen. Wandel, Zufall und der Augenblick bildeten das Dreibein, auf dem die Gesellschaft balancierte. War das eine Zeit«, sagte sie nachdenklich, blickte kurz vor sich hin und sprach weiter. »Die Lage ließ es den Menschen angebracht erscheinen, sich mit Tod und Leben auf ein Glücksspiel einzulassen. Schließlich ist Selbstzerstörung dann die beste Form der Selbstkontrolle, wenn Kontrolle über das eigene Leben ausscheidet. So ging das eine Weile. Selbstmorde, Gewaltverbrechen, Drogensucht steigerten sich enorm. Vor allem kreativer Selbstmord – die Leute bezahlten große Summen dafür, ihren Tod arrangieren zu lassen. Man öffnete Nationalparks für Kriegsspiele – wo die Menschen hingehen und einander töten konnten, ohne denen zur Gefahr zu werden, die ihre Dekadenz in weicher Form genießen wollten. Opiumhöhlen und Sexsalons vervielfachten sich. Die Begräbniskunst wurde zur höchsten Kunstform. Alle dilettierten in Tod, in Leben und in Phantasterei.
    Die Wissenschaft jedes Zeitalters ist stets ein Symptom der Phantastereien der Zeit. Bei unserer Wissenschaft war das nicht anders. Gen-Ingenieure waren die Vollstrecker unseres gesellschaftlichen Unbewußten. Angestachelt durch Erfolge beim Klonen, durch ihre Rolle bei der Erschaffung der Neuromenschen, begannen sie die Rätsel des genetischen Codes nun erst ganz zu lösen.
    Sie kannten das Alphabet der genetischen Botschaften, und Mitte des 21. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung hatten sie Ort und Bedeutung jedes Buchstabens entschlüsselt. Als man einmal entdeckt hatte, welche Gene was sagten, fiel es nicht schwer, mit etablierten Methoden Gene eines Tieres mit denen eines anderen ›zusammenzukleben‹ und damit ein – neues Tier zu schaffen.«
    Beautys Augen weiteten sich angesichts des Damoklesschwerts, das über seinem Kopf hing.
    »Zum Beispiel konnte man die Gene für Kopf und Oberkörper eines Menschen mit denen für Rumpf und Beine eines Pferdes verbinden«, fuhr Jasmine ein wenig gedehnt fort, »und zwar so, dass das Wesen, das dabei herauskam, nach vollständiger Embryoentwicklung ein … Zentaur war.«
    »Nein!« schrie Beauty und sprang auf. Seine Augen funkelten zornig, aber es waren auch Angst und Trauer dabei. Er sah aus wie ein Kind, dem man gerade mitgeteilt hatte, es sei adoptiert. »Das kann nicht sein«, flüsterte er rau. »Ich habe Geschichten von der Wanderung der Zentauren gehört – Geschichten aus der Zeit Vor dem Eis, als es fünf große Kontinente gab und das hier der Kontinent der Menschen war, die ihn durch Vernachlässigung zerstörten; als die Zentauren hierher flohen, nachdem ihr eigenes Land im Hundert-Tage-Krieg von den Vampiren vernichtet worden war; das …«
    Jasmine hob abwehrend die Hand.
    »Nein, Beauty. Das sind Mythen von eurem Ursprung. Jede Art erschafft Legenden von ihrer eigenen Entstehung, und diese Geschichten von Kontinenten und Völkerwanderungen sind eure Mythen. Meine Geschichte ist die Wahrheit.«
    Er sah sie verzweifelt an, sein Blick war ein Flehen. Sie blieb unerbittlich.
    »Viele der Wesen, die es jetzt gibt, sind Folgen dieser frühen Experimente genetischer Manipulation. Katzen mit teilweise menschlichen Hirnen wie Isis, zum Beispiel. Solche Kreuzungen waren beliebt bei den Reichen – als Haustiere, Kuriositäten, Statussymbole. Das war die natürliche Fortsetzung der äußersten Dekadenz -Phantasiegebilde zu verwirklichen, während die Wirklichkeit zerfiel.
    Nach kurzer Zeit war es gar nicht mehr so teuer, mythologische Wesen in Auftrag zu geben – Sphinxe und Zentauren und was-weiß-ich. Der Mittelstand begann sie zu erwerben, sogar die Zoos kauften Exemplare. Dann wurde es unter den Reichen natürlich schick, einander zu übertreffen und sich die verrücktesten Dinge einfallen zu lassen. Vampire waren natürlich besonders beliebt -Menschenkörper,

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