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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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kein Flüstern. Jasmine kam fassungslos wieder herein. »Fort«, sagte sie. »Alle fort.«
    »Die JEGS!« fragte Beauty.
    »JEGS, Vampire, Unglücksfälle, Menschen. Alle fort.«
    Sie gingen hinauf und schauten sich um, auch Josh, der wie auf dünnem Eis über schwarzem Wasser ging. Der Ausguck über dem Felsen war verlassen, Fußabdrücke führten den Berg hinunter. Unweigerlich nach Süden.
    Und das Vampirlager tief unten war leer. Man sah zwei Wagen, zurückgelassen wie alte Schuhe.
    »Sie werden nicht auf uns warten«, sagte Josh. »Wir müssen weiter.«
    »Du bist immer noch nicht in der Verfassung …«, fing Jasmine an.
    »Mein Wasser war heute früh fast klar. Und mein Rücken schmerzt lange nicht mehr so stark«, erwiderte er. »Außerdem gehe ich auf jeden Fall.« Es klang entschlossen.
    Beauty schien mit sich selbst ein wenig im Hader zu liegen, obwohl er offenkundig begierig war, die Verfolgung aufzunehmen. Er sah Jasmine an.
    »Vielleicht, wenn er auf mir reitet …«, meinte er fragend.
    Jasmine glaubte nicht, sie noch länger zurückhalten zu können, und gab mit einem Achselzucken nach.
    Beauty breitete die Arme aus, Josh zog sich auf den Rücken des Zentauren, und ohne weitere Umstände machten sie sich auf den Weg.
    Die Fußspuren führten schließlich zusammen: Vampire, Unglücksfälle, Menschen durcheinander, die JEGS auf ihren Fersen. Josh war froh darüber, zur Abwechslung einmal hinter Jarls hartnäckigen Soldaten zu sein.
    Die Jäger zogen einige Stunden lang stumm dahin und konzentrierten sich auf die Fährte. Sie fühlten sich nach den Vorwürfen der vergangenen Nacht viel enger verbunden. Da die privaten Dämonen vertrieben waren, konnten sie sich jetzt mit Klarheit dem widmen, was sie gemeinsam hatten, was sie einigte – die Verfolgung des Feindes.
    Da Josh ritt, nützte er die Gelegenheit, in wackliger Schrift festzuhalten, was geschehen war. Als Tinte benützte er Spucke und den natürlichen Farbstoff zerdrückter Blaublumenblätter. Als Unterlage diente Beautys Rücken. »Das Wort ist groß, das Wort ist eins«, flüsterte er, als er fertig war und das zusammengerollte Papier wieder in das Röhrchen schob.
    Die Sonne kam den ganzen Vormittag nicht aus den Wolken heraus, die Luft blieb kühl und kündigte Schlechtwetter an. Neben einem seichten, schnellfließenden Bach lag ein totes Wiesel auf der kalten Erde, die Augen noch geöffnet. Es schien sie zu beobachten. Wohl ein Omen.
    Joshua hing, auf dem Rücken des Zentauren sanft schwankend, seinen Gedanken nach. Sie gingen in alle Richtungen. Er dachte an Jasmines sonderbare Redensarten, die sie sich im Lauf von drei Jahrhunderten angewöhnt hatte. Er machte sich Gedanken über die Herkunft von Isis, woran sie dachte, was ihr im Lager der Vampire begegnet war. Er wünschte sich Beautys stille Kraft bei der Verarbeitung von Jasmines Offenbarungen. Er versuchte sich vorzustellen, was Dicey in diesem Augenblick wohl machte. Er sah die Wolken sich von Tieren in Bäume, in rätselhafte, unnennbare Formen verwandeln. Er roch den Wind. Er verlor sich in banalen Gefühlen, entließ wahllose Gedanken.
    Gegen Mittag fiel das Barometer merklich. Die Wolken nahmen einen düsteren brütenden Ausdruck an. Im Süden erhoben sich jetzt die schroffen Gipfel der nördlichen Sattelberge wie das regungslose Rückgrat eines schlaflosen Reptils. Der Wind änderte wieder die Richtung. Die ganze Natur wirkte angespannt; überall herrschte unwillkürliche Bewegung.
    Als die Spuren der Verfolgten ein wenig nach Osten abwichen, überschritt die verborgene Sonne ihren unsichtbaren Meridian. Alle drei nahmen den Augenblick mit einer inneren Uhr wahr, dem Gefühl des Jägers. Sie folgten der gewundenen Fährte über Ebene und Moor mit völliger Hingabe; nur in Gedanken ging jeder seinen eigenen Weg.
    Jasmine dachte immer wieder an das neue Tier im Süden, von dem Lon gesprochen hatte. Was für ein Wesen konnte das sein? Ihres Wissens waren in beinahe zweihundert Jahren keine neuen Tiere geschaffen oder entdeckt worden, zumindest nicht seit dem völligen Zusammenbruch der alten Technokratie Vor dem Eis. Um welches Geschöpf konnte es sich also handeln? Gewiss um ein denkfähiges. Gewiss um ein bösartiges. Aber was war es? Vielleicht Vor dem Eis erfunden und bis jetzt im Schlaf; vielleicht darauf programmiert, ein Jahrhundert nach dem Wandel durch das Eis zu erwachen. Oder auch eine neuere Mutation. Oder es gab in Wirklichkeit gar kein neues Tier, und das Ganze war

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