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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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sich aus, setzten es zusammen aus undeutlich erinnerten Geschichten, Tagträumen und Alpträumen, Hoffnungen und Ängsten. So, wie die Menschen sich immer alles ausgedacht haben. Das war die Entstehung der Schreibkunst als einer Religion – ein mystischer Glauben, geschaffen von rebellierenden Waisen.«
    Zu Jasmines Überraschung lächelte Josh nur.
    »Deine Geschichte richtet sich dann gar nicht gegen die Macht der Wörter, sondern nur gegen die Wissenschaft von Lesen und Schreiben, wie du sie gekannt hast – vor dem Entstehen der Schreibkunst. Du weißt nicht einmal, ob nicht die Ideen der ersten Schreiber vor hundertfünfzig Jahren – auch wenn sie Kinder gewesen sein mögen – viel fortgeschrittener waren als alle Schriften deiner Zeit, auf denen sie beruhten.« Wenn Josh von der Schreibkunst sprach, redete er oft wie ein Buch. »Die Schreiber könnten viel mehr Kräfte der Wörter entdeckt haben, als du je gekannt hast. Es könnte sogar die Magie der späten Schreiber gewesen sein, die dazu führte, dass das Eis kam.« Wieder lächelte er. »Wenn unsere Religion wirklich so jung ist, dann kann man ihr nur Erfolg wünschen. Aber ich vermute, dass die Ursprünge viel älter sind und das Geheimnis in den frühen Jahrhunderten nur strenger bewahrt wurde.«
    Jasmine sah ihren Freund, der gleichzeitig ihren Worten glaubte und doch an seinem Glauben festhielt, augenzwinkernd an.
    »Joshua, Jäger und Schreiber, ich verbeuge mich vor deinem Vertrauen auf die Magie des Wortes. Ich flehe dich nur an, dich davon nicht beeinflussen zu lassen, wenn es um wichtigere Dinge als einen Disput über das Eis und sein Erscheinen geht.«
    Beauty zog die Brauen hoch.
    »Was hat denn nun dazu geführt, dass das Eis kam?« Es war offenkundig, dass er, ohne allzu viel nachzudenken, an die Buch-Theorie geglaubt hatte.
    Jasmine lächelte.
    »Genau weiß ich es nicht. Es fing an mit dem Großen Beben, bei dem vom Kontinentalschelf so viel abbrach. Aber das muss nicht heißen, dass das Beben das Eis verursacht hat. Es ist einfach eine Eiszeit, das ist alles, etwas, das alle paar hunderttausend Jahre vorkommt. Gletscher nannte man das. Das Eis wird noch eine Zeit weiter südlich vorstoßen und sich dann wieder zum Pol zurückziehen, wo es hingehört.«
    Ein paar Regentropfen gelang es doch, sich durch die Laubdecke über dem Wald zu zwängen. Sie fielen der Reihe nach auf den gelben laubbedeckten Boden hinunter, so, als weinten die Bäume.
    Josh setzte sich, plötzlich müde.
    »Musst du länger rasten, Joshua?« fragte Jasmine besorgt.
    »Nein, nein, es geht schon …«
    Beauty drängte es, weiterzuziehen, einmal, um die Jagd fortzusetzen, aber auch, um aus diesem Wald hinauszukommen, dessen Dichte ihn erschreckte.
    »Komm, du kannst auf meinem Rücken schlafen, kleines Pony«, sagte er zärtlich, um sein Unbehagen zu verbergen.
    Josh ärgerte sich über den Zweifel an seinem Durchhaltevermögen.
    »Mir geht es gut, ich kann selbst gehen, mein lieber Pferde –«, sagte er und stand auf, setzte sich aber sofort wieder hin.
    Jasmine und Beauty liefen heran.
    »Was ist, Josh, geht es dir nicht gut?«
    »Doch, mir geht es …«, sagte er oder glaubte er jedenfalls zu sagen. In Wirklichkeit sagte er gar nichts, sondern nahm von der Welt nichts mehr wahr. Zum dritten Mal geschah etwas Sonderbares mit ihm. Er glitt unter zermalmendem Schlafdruck in eine Urschwärze, wo ein düsterer Wind ihn zu einem jetzt unverkennbar anschwellenden Puls grellsten Lichts zog, durch endlose Leere hindurch.
     
    »Geh nicht«, flüsterte Dicey. Die Angst verzerrte ihre Züge.
    »Ich bin da, ich gehe nirgends hin«, versicherte Rose. Sie hatte sich umgedreht, um für das Abendessen eine Kartoffel vom Boden aufzuheben. In den Armen wiegte sie Ollie, der sich ausruhte, noch immer mit Stummheit geschlagen.
    »Lass mich nur nicht allein«, drängte Dicey halblaut.
    Dabei hätten beide nirgends hingehen können. Sie waren immer noch an den Füßen gefesselt, umgeben von den vierunddreißig anderen menschlichen Geiseln, die sich im Regen zusammendrängten. Zehn Meter entfernt, unter einer großen, schräg herausragenden Betonplatte – zerfallene Mauer aus zerfallener Zeit – standen die Bewacher: Bal, Uli, Skri, drei Unglücksfälle und ein weiblicher Vampir namens Ena. Vampire schätzten es nicht, so nah mit Unglücksfällen zusammenzusein, wegen des Geruchs und überhaupt, aber noch mehr verabscheuten Vampire den Regen. Aber da dies in Sichtweite der einzige

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