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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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Unterstand war, schluckten sie ihren Stolz hinunter, bis das Unwetter vorbei war.
    Draußen saßen die Menschen, durchnässt, fröstelnd im Regenguss. Fünf waren auf dem Marsch schon gestorben – an Krankheit, Erschöpfung, Hunger, Blutverlust. Die Toten bekamen die Unglücksfälle. Die Überlebenden waren von robusterem Schlag. Aber der Treck war noch nicht zu Ende.
    Dicey rückte näher an Rose heran, um Wärme und Trost zu finden. Der Hals des jungen Mädchens war grün und blau, ihre Haut bleich, an manchen Stellen gerötet. Rose streckte die Arme aus, drückte die beiden Kinder an sich und wärmte sie mit ihrem Körper. Sie biss in die nasse, rohe Kartoffel und gab sie an Dicey weiter. Das Mädchen starrte sie dumpf an und begann zu weinen. Rose streichelte ihre tropfnassen Haare.
    »Na, na«, murmelte Rose, »das dauert nicht ewig. Wir kommen an, wo sie uns hinbringen, dann haben wir es warm und trocken und bekommen zu essen, und Joshua wird uns finden. Und mein Beauty auch.«
    Dicey biss in die harte Feldfrucht und kaute skeptisch.
    »Wenn ich ein Wort wüsste, das stark genug ist, könnte es uns befreien«, sagte sie. »Josh wüsste, wie man es schreibt.«
    »Sie kommen mit stärkeren Waffen als Wörtern, wenn sie kommen«, sagte Rose monoton. Sie hielt nicht viel von der Kraft der Wörter gegen Vampire und Unglücksfälle.
    »Sie brauchen nicht mehr, wenn sie die richtigen Wörter haben. Manche Wörter können Mauern zum Einsturz bringen, andere Fleisch verbrennen, manche Boote zum Fliegen bringen, andere zehntausend Menschen zwingen, dir zu folgen. Indem man einfach das geschriebene Wort liest. Manche Leute meinen, man müsste mächtige Wörter finden, weißt du, die schon geschrieben sind, aber Josh glaubt – ich glaube – dass man berechnen kann, wie ein mächtiges Wort beschaffen gewesen sein muss, einfach, wenn man alle Wörter kennt, die daraus entstanden sind. Wenn man klug genug wäre, könnte man auf diese Weise sogar zum Ersten Wort gelangen.« Ihre Miene verdüsterte sich, dann sagte sie bedrückt: »Wenn ich die richtigen Wörter nur wüsste.« Sie begann uralte, mächtige Worte in die Erde zu ritzen: ›Abbakadabra. Sesam, öffne dich. A OK. Heil Hitler‹.
    Rose hörte auf zu kauen, legte den Mund auf Ollies dünne, blaue Lippen und schob ihm den zerkauten Brei ihrer Kartoffel in den Mund. Der kleine Junge regte sich kaum, behielt das Zeug aber bei sich. Rose sah Dicey wieder an.
    »Wenn es ein solches Wort gibt, wird Joshua es schreiben«, versicherte sie dem zerbrechlich wirkenden Mädchen.
    »Aber ich fürchte mich«, gab Dicey zu. »Der, den sie Bal nennen – er kann lesen.«
    Rose lächelte mitfühlend.
    »Joshua kann besser lesen, da bin ich sicher. Komm, dreh dich herum, ich versuche wieder in deinen Augen zu lesen.« Dass sie in Diceys Augen nicht hineinblicken konnte, störte sie nicht weniger als alles andere, aber sie gab die Hoffnung nicht auf. Ihr Wille war stark, sie würde am Leben bleiben. Hilfe war überall. Josh und Beauty würden kommen. Das Wasser vom Himmel verlieh ihr Kraft. Und war nicht sogar eine seltsame kleine Katze aus der Nacht aufgetaucht und hatte beinahe ihre Fesseln durchgenagt? Nein, nichts war verloren; dies alles gehörte einfach mit zur Welt.
    Bal, auf der anderen Seite der Schlammfläche, starrte zum Himmel hinauf.
    »Blutleerer Regen«, fluchte er.
    Ena, die Vampirin, schärfte ihre Fingernägel an einem Stein.
    »Ich langweile mich«, jammerte sie.
    Bal sah sie leer an, dann entblößte er seinen Hals vor ihr. Ein Witzchen bei den Vampiren.
    Uli wandte sich an Bal.
    »Mir gefällt das Warten nicht, Sire Bal. Jarls Truppe rastet nicht, da bin ich sicher.«
    »Das Eis hole Jarls Truppe«, fauchte Bal. »Wir sind nicht mehr in ihrem Land, sie haben keinen Grund, uns weiter zu folgen. Außerdem wird der Regen bald aufhören.« Bal hasste den Regen noch mehr als seine Genossen. Skri, der Greif, flatterte plötzlich mit den Flügeln, verließ den windgeschützten Platz und flog ein paar Mal tief über den geduckten Menschen dahin, nur um sie zu seinem Genuss zu erschrecken. Ena lachte. Einer der Menschen, ein muskulöser Mann ohne Hemd, brach aus und begann verzweifelt zu laufen. Er war aber an einen drei Meter langen Haltestrick gefesselt, der ihn zum Stehen brachte. Er stürzte auf das Gesicht und blieb liegen, eine Platzwunde über den Augen. Das Blut rann über seine Stirn, als der Regen auf ihn niederprasselte.
    Ena sah das Blut.
    Ihre Nasenflügel

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