Zeit und Welt genug
vorbeigehende Barmann sehen konnte, was geschrieben stand, wenn er darauf achtete, wenn er wusste, wie Geschriebenes aussah, wenn er lesen konnte: HILFE! Lange genug, dass es Joshua das Leben kosten mochte, wenn der Barmann kein Freund war, wenn der Falsche die Schriftzüge sah.
Josh ließ die Aschenflocke auf die Theke fallen, als die Flamme zuletzt an seinen beschwielten Fingerspitzen leckte. Sonst geschah nichts. Der Barmann servierte weiter Getränke, der Werwolf sabberte, betrunkene Wesen tauschten Worte und Vermögen. Der Ghul schien sich näher heranzuschieben. Josh leerte sein Glas und wollte gehen.
»Augenblick!« fuhr ihn der Barmann an. »Du hast nicht bezahlt!«
»Nein. Doch. Doch, das habe ich«, stammelte der junge Jäger. »Ich gab –«
Der brutale Kerl ließ seine Riesenhand auf Joshuas Schulter fallen und hieb seinen Kopf auf das Holz, dass er betäubt war, dann zog er ihn wie eine Gliederpuppe über die Theke auf die andere Seite der Bar. »Tote saufen nicht, die ersaufen«, knurrte er, worauf er eine Falltür im Boden öffnete und Josh in das Wasser des Hafens hinunterkippen ließ. Es klatschte laut. Ein paar Gäste lachten, als der Barmann die Klappe schloss. »Abschaum vom Land«, brummte er.
Josh kam sofort zu sich, als er ins Wasser stürzte, aber nicht, bevor er eine große Portion geschluckt hatte. Bis er sich umsah, packten ihn überall Hände und zogen ihn an wackeligen, glitschigen Stufen hoch. Er war kaum mit Spucken und Husten fertig, als er auf nacktem Boden in einem stillen, gut beleuchteten Zimmer lag – umgeben von einem Dutzend grimmiger, wartender Gestalten. Sein Blick glitt rasch über ihre Gesichter: Alle waren Menschen.
»Willkommen, Bruder«, sagte ein hagerer Mann an der Tür.
Josh setzte sich mühsam auf.
»Wo bin ich hier?«
Sie lächelten alle, um zu zeigen, dass er nichts zu befürchten hatte. Mehrere entfernten sich sofort durch die Tür, die der Hagere zu bewachen schien. Einer trat an den kleinen Kohlenofen, um etwas zu kochen, zwei beschäftigten sich wieder damit, Messer in einer Schublade zu sortieren. Einer setzte sich an den Tisch, griff nach einer Feder und begann zu Joshuas unendlicher Freude zu schreiben. Die drei, die Josh am nächsten waren, setzten sich zu ihm auf den Boden.
»Wir nennen uns die Bucherei«, sagte der Mann, der Josh am nächsten saß. Er war ein ernsthafter junger Mann mit roten Haaren und randloser Brille. »Wir sind hier alle Schreiber, aber unsere Gesellschaft ist geheim, sogar anderen Schreibern gegenüber. Ich heiße David.« Er streckte die Hand aus.
Josh drückte sie.
»Joshua«, erwiderte er. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit fühlte er sich vollkommen sicher.
Die beiden anderen begrüßten ihn ebenfalls, ein angespannt wirkendes drahtiges Mädchen namens Paula mit kurzen Haaren und Sommersprossen, und ein Junge von nicht mehr als achtzehn Jahren, obwohl er es dem Gewicht nach fast mit den anderen drei zusammen aufnehmen konnte. Er hieß Lewis. Er wirkte sehr schüchtern, und Joshua schloss ihn gleich ins Herz.
»Wie habt ihr mich gefunden?« fragte Josh.
Davi lachte.
»Percy hat dich zu uns hinuntergeworfen. Er ist der Barmann. Er gab uns ein Zeichen, dass du bald kommen würdest, und wir haben darauf gewartet, dass du – vorbeikommst. Wir befinden uns zur Zeit in einem verborgenen Raum unter den Docks.«
»Ihr könnt mir helfen?« fragte Josh drängend. Er war überzeugt davon, dass sie es tun würden. Sie erweckten ein Gefühl guten Geschicks.
»Wir können einander helfen«, sagte Paula. »Was brauchst du?«
»Meine Braut, mein Bruder und eine gute Freundin sind entführt worden. Man hat sie fortgebracht –«
»Nach Süden, als Nahrung für das neue Tier«, sagte David tonlos. Zwei ältere Personen, die einander in einer Ecke vorgelesen hatten, verstummten, als diese Worte fielen.
Josh war einen Augenblick lang sprachlos.
»Dann wisst ihr von …«
»Wir wissen, dass ein Ungeheuer los ist im Land. Wir wissen, dass wir dieses neue Tier töten oder bei dem Versuch zu Geschriebenem werden.«
»Machst du mit?« fragte Lewis.
»Ich … ich muss zuerst meine Angehörigen finden«, erklärte Josh. Das Schlafgefühl überfiel ihn plötzlich wieder; ein Anfall stand bevor, kein Zweifel.
»Aber unser Kampf ist derselbe«, sagte Paula beharrlich.
»Mein … mein …« Joshua versuchte zu sprechen, aber seine Sinne umwölkten sich rasch, als die Dunkelheit wie eine nächtliche Flut alles in ihm
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