Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
würdet dann ganz schnell erkennen, dass es ›die Franzosen‹ und ›die Belgier‹ gar nicht gibt. Es sind viele einzelne Menschen, die ihr da in eine Kiste sperrt. Und es ist ja so einfach, dann auf diese Kiste Etiketten zu kleben wie ›hochnäsig‹, ›Erbfeind‹, ›Blutsauger‹, ›Hurenböcke‹ und was ihr sonst noch für gehässige Bezeichnungen erfindet. Einfach ist es, gewiss, aber falsch.«
»Höre sich einer unsere Mama an«, staunte Leo. »Ich komme gestern über die Mittelstraße. Der Bürgersteig ist nicht schmal und nicht breit, jedenfalls kommen drei Menschen bequem aneinander vorbei. Da gehen zwei belgische Offiziere auf die Kirche zu, wippen ihre Reitpeitschen gegen die Stiefelchen, unterhalten sich und scheinen guter Dinge. Ihnen kommt Beilens Sophie entgegen, hochschwanger, wahrscheinlich im achten Monat, drückt sich eng an der Häuserwand entlang, um den beiden ja nicht im Wege zu sein, und wird doch von einem am Arm gefasst und brutal auf die Straße gezerrt. ›Wo Offiziere gehen‹, schreit er sie an, ›da ist kein Platz für euch Boches!‹ Und damit sie’s nicht vergisst, zieht er ihr eins mit der Reitpeitsche über den Rücken. Und für solche Menschen, Mama, für solche Halunken findest du noch gute Worte.«
»Sauerei, verdammte!«, sagte Hermann Cremmes. »Ein Messer sollte man denen zwischen die Rippen rammen.«
»Damit der Hass noch stärker wird«, entgegnete Franziska, ohne von ihrer Zeichnung aufzuschauen.
»In den ersten Kriegswochen«, begann Paul zu erzählen, »drangen die russischen Truppen in Ostpreußen ein. Ich war damals ein halbwüchsiger Bursche und in Ortelsburg in der Lehre. Mein Meister schickte mich nach Hause. ›Euer Liebenberg liegt so versteckt in den Wäldern, das finden sie nicht‹, sagte er. ›Komm wieder, wenn die Russen zurückgetrieben sind!‹ Er sagte das so, als ob er sicher sei, der Einmarsch könne nur wenige Tage dauern. Ich lief die dreißig Kilometer sozusagen den Russen entgegen. Dann und wann traf ich auf Flüchtlinge, Frauen und Kinder, alte Männer, die auf hoch bepackten Pferdewagen ins Innere des Landes zogen. Aber von den Dörfern nahe der Grenze begegnete mir niemand. Eine Familie aus Lindenort allerdings meinte, am Tage zuvor seien durch ihr Dorf ein paar Liebenberger gezogen und es sei gut gewesen, dass sie rechtzeitig aufgebrochen seien, denn man erzähle sich fürchterliche Dinge von den eindringenden Soldaten. Manche seien wie wild über die Frauen hergefallen und Plünderungen gehörten zu diesem Krieg dazu wie das Bier zum Hering.
Ich war ziemlich sicher, dass meine Mutter und mein Vater sich nicht unter den Flüchtlingen befanden, denn meine Großmutter lag seit Wochen krank im Bett und eine Fahrt auf dem Pferdewagen wäre wohl ihr Tod gewesen. Ich kannte Weg und Steg und mied die großen Straßen und suchte, je näher ich an Liebenberg herankam, schmale Pfade durch die Wälder und Sümpfe. Die Angst trieb mich. Gelegentlich drang bis zu mir hin das dumpfe Geräusch einschlagender Granaten und das spornte mich immer wieder an, wenn meine Schritte langsamer wurden.
Auf einem allein liegenden Hof wollte ich um einen Schluck Wasser bitten, aber es war ein Geistergehöft. Drei Tote lagen vor dem Haus, getroffen von vielen Kugeln. Die Ställe standen leer. Eine Granate hatte ein riesiges Loch in die Giebelwand des Wohnhauses gerissen und das Dach halb abgedeckt.
Ich bin voller Angst weitergerannt. Was würde mit Liebenberg sein? Ich habe die Strecke bis in unser Dorf in vier Stunden geschafft.
Es war, wie mein Meister gesagt hatte: Der Krieg war bisher an Liebenberg vorübergezogen. Es liegt wirklich abseits der großen Straßen.
Meine Mutter wollte mich gar nicht aus ihrer Umarmung freigeben und rief mehrmals: ›Dass ich dich wieder sehe, Paul, dass ich dich noch einmal wiedersehe!‹
Alle standen in der Wohnstube um mich herum: drei Schwestern, Elisabeth, Gertrud und Katharine, mein Bruder Johannes, mein Vater und unsere kleineCousine Martha. Martha war fünf Jahre alt und von meiner Mutter ohne langes Überlegen einige Wochen zuvor in die Familie aufgenommen worden. Meine Tante Marie, das ist die Mutter von Martha, war plötzlich gestorben.
Unsere Hoffnung trog, dass unser Dorf von den Russen übersehen werde. Knapp eine Stunde nach meiner Ankunft hallte Geschrei in der Dorfstraße auf und Schüsse knallten.
›Die Russen‹, sagte Mutter. Während meine Schwestern aufgeregt in der Stube umherrannten und Martha
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