Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
sie jeden Tag eins ins Nest legen sollen.«
»Stimmt«, erwiderte Bruno. »Wenn ich an den Preis denke, bleibt mir das Ei fast im Halse stecken.«
»Übrigens, wie wäre es mal wieder mit einer Portion Fisch für Freitag?« fragte Fräulein Gundula. »Dein alter Freund auf der Tütebell freut sich doch sicher, wenn du ihn besuchst.«
»Mal sehen, ob ich am Donnerstag hinkomme«, antwortete Bruno. Er hatte schon mehrmals den Fischer Leo Angenheister besucht, der sie beim Fischen mit den Handgranaten erwischt hatte. Viel geredet wurde dabei nicht. Bruno machte es Spaß, für ein paar Stunden das große Senknetz ins Wasser zu lassen und nach einer Weile wieder hochzukurbeln. Er holte dann die Fische mit dem Kescher heraus und ließ sie in die gelöcherten Blechtonnen gleiten, die links und rechts außen am Kahn befestigt waren. Meist fing er kleine Weißfische, aber dann und wann ging auch ein größerer Brassen ins Netz.
Einmal hatte ihm Angenheister voll Stolz einen schweren Salm gezeigt. »Heute im Morgengrauen«, hatte er gesagt. »Mir sitzt jetzt noch der Schreck in den Gliedern.«
»Meine Wüstenstunden« nannte Bruno die Zeiten am Strom.
»Na, satt geworden?« Fräulein Gundula riss ihn aus seinen Gedanken.
Klauskötter kam mit dem Lateinbuch in der Hand in die Küche, setzte sich zu Bruno an den Tisch und sagte: »Dann wollen wir mal.«
Bruno hatte in den zurückliegenden Monaten wie ein Besessener gelernt. Der »Gallische Krieg« von Julius Cäsar machte ihm kaum noch Schwierigkeiten.
»Allmählich solltest du dir ernsthaft überlegen, Padre, ob du nicht doch wieder in eine Schule gehen willst«, sagte der Kaplan.
»Ich weiß«, antwortete Bruno. »Lassen Sie mir Zeit.«
»Das höre ich von der Franziska Reitzak auch immer wieder.«
»Von unserer Franziska? Was wissen Sie von Franziska?«
Der Kaplan wurde ein wenig verlegen, aber er sagte dann: »Versprich mir, dass du dir nichts anmerken lässt.«
»Ja«, sagte Bruno, »ich verspreche es.«
»Sie kommt alle vierzehn Tage mittwochs zu mir. Sie will mehr von dem wissen, was wir glauben.«
»Wegen Paul?«, fragte Bruno.
»Ich glaube schon«, sagte Kaplan Klauskötter. »Aber halt deinen Mund. Selbst der Paul weiß nichts davon.«
»Ist doch klar«, beteuerte Bruno.
Als Bruno in die Blütentalstraße kam, saß Hermann Cremmes auf der Treppenstufe im Hauseingang. Bruno setzte sich neben ihn. Er holte seinen Brustbeutel heraus und zeigte Hermann das Foto. »Kennst du jemand auf dem Bild?«, fragte er.
Hermann schaute sich das Foto genau an. »Ist in Berlin, wie?«
»Ja.«
»Warum schleppst du das Foto mit dir herum?«
»Nur so, als Erinnerung.«
»Wie kommst du darauf, dass ich einen kennen könnte?«
»Der Alwin meint, einer von denen sitzt mit dir gelegentlich im ›Dicken Pferd‹.«
»Das könnte der Maximilian sein«, sagte Hermann und tippte auf den Offizier. »Der hat in Berlin gegen die Revolution gekämpft.«
Hermann reichte Bruno das Bild zurück. »Du bist mir einer«, neckte er den Jungen. »Trägt sein Privatmuseum mit sich am Hals herum.«
30
Der Winter hatte wenig Gutes gebracht. Das Geld wurde von Tag zu Tag weniger wert. Seit die Belgier und Franzosen am 11. Januar 1923 in das Ruhrgebiet einmarschiert waren, zeigten die Geldscheine immer mehr Nullen und selbst die kleineren Schulkinder jonglierten mit Tausendern, Hunderttausendern und Millionen und hörten staunend und an der Wahrheit der Geschichten zweifelnd, dass noch zehn Jahre zuvor ein einziger Kupferpfennig ein Schatz war, für den man zwei dicke Milchkaramellen oder gar vier klebrige Himbeerbonbons kaufen konnte.
Die Regierung in Berlin hatte zum passiven Widerstand gegen die Besatzungsmächte aufgerufen. Wer den Franzosen oder Belgiern zu Diensten war, der sollte als Verräter des Vaterlandes gelten. Ausnahmsweise waren sich der Kommunist Mathes März und der Nationalsozialist Hermann Cremmes in dieser Hinsicht einig. Passiver Widerstand sollte den Siegern zeigen, dass sie auch mit einem wehrlosen, geschlagenen Volk nicht alles machen konnten, was ihnen beliebte. Und alle, deren politische Meinung zwischen links und rechts lag, stimmten der Regierung zu.
Unrecht war geschehen. Wegen geringer Rückstände bei den Kohlen- und Holzlieferungen von Deutschland nach Frankreich hatten die Truppen auf der linken Rheinseite den Befehl erhalten, den Strom zu überqueren und in das Industriegebiet einzudringen.
Keine Hand rührte sich in den folgenden Wochen für die
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