Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
Besatzer. Die Bergleute fuhren in die Schächte ein, förderten jedoch fast keine Kohlen. Die Hüttenarbeiter gingen zur Schicht, aber verrichteten bestenfalls Reparaturarbeiten. Die Eisenbahner heizten keine Lokomotive und koppelten keine Züge mehr zusammen.
Die Besatzungsmächte beschlagnahmten daraufhin die Eisenbahn und wiesen alle Beamten aus dem Ruhrgebiet aus, die sich ihren Anordnungen widersetzten. Die gesamte Rheinschifffahrt lag zehn Tage nach dem Einmarsch völlig still. Es war, als ob der arbeitsame Riese an Rhein und Ruhr sich nur noch zeitlupenhaft und ziellos wie in einer Narkose bewegte.
Leo Reitzak kam mit der Nachricht, dass selbst die Huren in den Bordells am Hafen auf französische Lockrufe kühl und abweisend reagierten. Erlag dennoch eine Frau dem Angebot der harten Währung, dann musste sie damit rechnen, dass ihr der Kopf kahl geschoren wurde.
Als es Ende März bei Krupp in Essen zu einem blutigen Zwischenfall kam, bei dem dreizehn Arbeiter vor den Toren der Hütte erschossen wurden, da lief diese Nachricht wie ein Lauffeuer durch das ganze Land. Die Empörung war groß.
»Ausspucken werde ich, wenn mir auf der Straße ein Soldat begegnet«, sagte der alte Reitzak.
»Lass das lieber sein, Martin«, warnte seine Frau. »Die sind mit ihren Gewehren schnell bei der Hand.«
»Trotzdem«, beharrte Martin. »Trotzdem!«
»Mit dem Mund«, sagte Franziska und strichelte auf einem Zeichenblatt an einem Kleiderentwurf herum. »Mit dem Mund sind sie alle sehr stark, die Männer.«
»Nicht nur mit dem Mund«, widersprach Bruno. »Spitzt morgen um zwölf mal die Ohren. Ganz Deutschland wird aufhorchen.«
Hermann Cremmes blickte spöttisch auf Bruno. »Greift ihr Schwarzen endlich auch zur Sabotage?«
»Was meinst du damit?«, fragte Paul.
»Nun«, meinte Hermann, »ihr könntet zum Beispiel die Eisenbahnbrücke über den Rhein in die Luft sprengen. Das wäre ein Knall, den man nah und fern hören würde. Selbst der Oberst würde dann seinen Hut vor euch ziehen.«
»Wer ist das denn, der Oberst?«, fragte der alte Reitzak.
»Das ist unser Gruppenleiter. Ein Kerl von echtem Schrot und Korn. Maximilian Deisius heißt er.«
»Maximilian Deisius?«, fragte Franziska. »Den kenne ich. Der wohnt bei den Barons im Haus. Hermann hat recht. Das ist wirklich ein netter Mann.«
»Na, wie wär’s mit der Brücke?«, fragte Hermann.
»Das versuche mal selbst, du Angeber! Kannst ja deinen feinen Oberst mitnehmen«, erwiderte Paul. »An jedem Brückenpfeiler stehen drei Soldaten, das Gewehr entsichert in der Hand. Maschinengewehre bewachen die Auffahrten. Die Brücke sprengt niemand.«
Leo erwiderte hitzig: »Das habt ihr von den Lokomotiven auch gesagt. In den letzten Wochen sind schon vier Stück in die Luft geflogen und wir sind mit unseren Aktionen noch längst nicht am Ende. Wir werden bald noch …«
»Schweig still, Leo!«, fiel Hermann ihm ins Wort und Frau Reitzak rief erschrocken: »Du redest dich um Kopf und Kragen, Junge. Und damit du es ein für allemal weißt: Wir haben damit nichts zu tun und wollen auch nichts von alledem wissen.«
Hermann versuchte, sie zu beruhigen. »Ist auch besser so. Aber ich bin doch mal gespannt, was der Padre morgen vorhat.«
»Ich kann es euch ja verraten. Sie brauchen nichts zu befürchten, Frau Reitzak«, sagte Bruno. »Morgen, wenn die dreizehn Arbeiter von Krupp beerdigt werden, dann läuten um Punkt zwölf in ganz Deutschland eine Viertelstunde lang die Kirchenglocken.«
»Das ist eine fantastische Idee«, gab Hermann zu. »Das wird den Franzmännern zu schaffen machen.«
»So neu ist das auch wieder nicht«, sagte Ditz. »Vor ein paar Jahren haben sie bei jedem Sieg evangelisch und katholisch geläutet.«
»War Totengeläut«, behauptete Frau Reitzak. »Sieg hin, Sieg her, jedes Mal mussten sie viele Soldaten unter die Erde schaffen.« Sie bot ihrem Mann noch ein Stück Sonntagskuchen an, aber der winkte ab. »Ich finde es gut«, fuhr sie fort, »dass die Glocken morgen läuten. Vielleicht gibt es doch einige, die nachdenklich werden und sich darauf besinnen, wie die Menschen miteinander umgehen sollen.«
»Du bist eine unverbesserliche Optimistin, Mama«, sagte Leo. »Du siehst nicht, was wirklich ist. Das Franzosenpack will Deutschland endgültig und für alle Zeit zerschlagen. Daran wird kein Glockengebimmel sie hindern.«
»Ihr sagt immer ›die Franzosen‹, ›die Belgier‹«, antwortete Frau Reitzak. »Ihr solltet genauer hinschauen. Ihr
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