Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
geschoben wurden.
Die eine oder andere Kleinigkeit steckten die Soldaten ein, aber Geld und Gold fanden sie nicht. Da packte der ältere einen leichten Hammer und einen ziemlich großen Nagel und trat neben den Soldaten, der immer noch der Martha zuredete. Er radebrechte: ›Sag, wo Gold ist, sonst ich schlag mit dem Nagel deine Zunge fest auf die Tischplatte.‹ Und damit das Kind ganz sicher verstand, was er androhte, streckte er seine eigene Zunge heraus, kniete sich vor dem Tisch nieder und deutete an, was er tun wollte.
Der andere Soldat gab das ziellose Wühlen auf. Martha begann, heftig zu zittern. Sie bewegte die Lippen, aber brachte keinen Ton hervor.
Ich sah, dass mein Vater dem Gräuel ein Ende machen wollte und zum Fenster ging, um Uhr und Ring herauszugeben. Aber plötzlich sprang der Mongole, der sich ein wenig im Hintergrund gehalten hatte, dicht an den Tisch heran und zielte mit dem entsicherten Gewehr auf seine eigenen Kameraden. Er schrie ihnen ein paar Sätze zu und hob die Mündung seines Karabiners. Da fiel die Gier nach Gold von den drei Soldaten ab. Sie wurden ruhiger und wendeten sich schließlich der Tür zu und verließen das Haus.
Der Mongole ging als Letzter. In der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte: ›Krieg nix gut. Weckt Wolf in Mensch.‹
Mein Vater hat später gesagt, der Mongole habe den Soldaten ernsthaft gedroht, dass er schießen werde, wenn sie nicht abließen von ihrem Tun. Dem älteren habe er zugeschrien: ›Hast doch selber zwei kleine Mädchen zu Hause in Kiew, Wassilij. Wirst ihnen nicht mehr in die Augen schauen können, wenn du das Kind quälst.‹
Die Truppe ist dann schnell in Richtung Ortelsburg weitergezogen. Später hat sich kein Russe mehr in unser Dorf verlaufen.«
Paul verstummte. Schließlich sagte er: »Warum habe ich euch das alles erzählt? Ich denke, damals habe ich das zum ersten Mal begriffen, was Frau Reitzak vorhin sagte. Man kann einen Menschen nicht beurteilen danach, ob er Russe ist oder Belgier oder Franzose oder Deutscher. Man muss schon genauer auf jeden Einzelnen schauen, wenn man über ihn etwas wissen will.«
Hermann Cremmes erwiderte hitzig: »Sie mögen mit ihren Pferden daherklappern oder in langen Kolonnen marschieren, ihre Clairons können noch so hell schmettern, solange sie alle diegleiche Uniform tragen, so lange sind sie für mich gleich. Franzmänner und Belgier. Unsere Feinde und nichts anderes. Wie Ungeziefer.«
»Mancher versteht’s eben nie«, seufzte Frau Reitzak.
31
Paul wusste nicht recht, was er davon halten sollte, als der Vater von Hermann Cremmes ihn einlud, am folgenden Sonntag mit nach Mülheim zu fahren. Friedrich Cremmes war Leiter des Postamtes und ein stiller Mann. Sein einziges Vergnügen, ja fast schon eine Leidenschaft, waren seine Tauben, die er auf dem Dachboden in einem lichten Verschlag mit großer Hingabe pflegte. Je mehr sein Sohn Hermann sich in politischen Fragen von ihm unterschieden hatte, umso häufiger hatte er sich nach Dienstschluss bei seinen Tauben verkrochen.
Aber an diesem Tag sollte es nicht zu einer Taubenausstellung gehen. Nein, Hermann Cremmes war Mitglied des Vereins für die Sicherung des Lebens des deutschen Kaisers, worüber sein Sohn sich oft lustig machte. Zu einem Treffen Gleichgesinnter sollte es in einem Ausflugslokal an der Ruhr kommen. Warum er ausgerechnet Paul einlud, blieb dunkel. Vielleicht glaubte er, bei einem Ostpreußen am ehesten Kaisertreue finden zu können.
Paul war froh, das Einerlei der Tage durchbrechen zu können. Franziska wollte an diesem Tag in Bochum Verwandte besuchen. Als Paul herauszubekommen versuchte, was sie dorthin trieb, bekam er nur ausweichende Antworten. Schließlich hatte Leo ihm für zehn Zigaretten verraten, dass seine Cousine Gertrud aus Bochum in ihrer Aussteuerkiste weißen Taft für ein Brautkleid und sogar echte Brüsseler Spitze liegen hatte, aber ihr Verlobter wurde 1918 von der ersten Grippewelle erfasst. Er starb nach wenigen Tagen. Das Brautkleid war nie genäht worden. Gertrud habe Franziska Stoff und Spitzen versprochen. »Wirst eine elegante Braut haben, wenn es so weit ist«, sagte Leo.
»Aber warum macht sie daraus vor mir ein Geheimnis?«
»Bist ein Dussel«, antwortete Leo. »Frag meinen Alten, der wird’s dir sagen, dass es Unglück bringt, wenn der Bräutigam das Brautkleid vor der Hochzeit schon zu Gesicht bekommt.«
»Unsinn!«, lachte Paul.
»Mag sein, aber Vater nennt dir genau den Kobold aus eurer
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