Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
zu weinen begann, behielt mein Vater einen kühlen Kopf. ›Ab in den Keller mit euch Frauen‹, sagte er und hob die Falltür im Boden des Zimmers. Unser Haus hatte im Gegensatz zu den meisten Holzhäusern im Dorf unter der Wohnstube einen schmalen Kelleraushub, der durch eine Luke verschlossen wurde. Diese Luke war aus schweren Bohlen gezimmert, aber ein Kontergewicht, ein schwerer Feldstein, der über eine Rolle lief, machte sie so leichtgängig, dass selbst ein Kind sie öffnen konnte.
Die Frauen kletterten die steile Stiege hastig hinab in das schmale dunkle Loch. Meine Mutter trug Martha auf dem Arm. Vater schloss die Luke und rückte den Tisch so darüber, dass sie nicht gleich ins Auge fiel.
Die Russen stürmten die Straße entlang und drangen in das eine und andere Haus ein. Die meisten Häuser standen leer, weil die Bewohner zwei Tage vorher geflohen waren.
Die Warczaks waren fort und auch die Kurpeks hatten rechtzeitig ihr Pferd vor den Wagen gespannt. Die Lenskis besaßen kein Gespann. Zu Fuß wollte Antonia Lenski mit ihren vier Kindern nicht losziehen, zumal das jüngste gerade erst das Laufen gelernt hatte. Als sie die Schüsse hörte, verrammelte sie die Haustür von innen, aber das schadete nur. Die Soldaten warfen mehrere Handgranaten durch die Fenster in die Stube und die Tür wurde schließlich aufgesprengt. Wie durch ein Wunder kam die Lenski, die sich mit ihren Kindern im Hinterzimmer verkrochen hatte, mit einem Schrecken davon, wurde aber von einigen Soldaten mit Gewehrkolben niedergestoßen und blieb im Sand vor dem Haus mit gestauchten Rippen liegen.
Mein Vater hatte seine Taschenuhr und den Trauring in einer Höhlung hinter dem Fensterrahmen versteckt und strich gerade seine Haare herunter, damit der goldene Zimmermannsring in seinem Ohrläppchen nicht zu sehen war, da polterten auch bei uns vier Soldaten durch die Tür. Drei blutjunge Burschen, darunter einer so groß wie ein Riese und mit einem breiten Mongolengesicht, und ein anderer, der wohl etwas älter war und einen struppigen Schnurrbart trug.
Mein Vater, der auf den Baustellen in Rußland ein paar Worte Russisch gelernt hatte, versicherte, dass keine Waffen im Haus seien und auch keine Soldaten. Der Mongole trat an das Bett der Großmutter, die mit fiebriger Röte im Gesicht und hohläugig und ausgezehrt in ihrem Bett lag.
›Alte Frau sehr krank‹, sagte er. ›Wir gehen.‹
›Nix Gold, nix Geld?‹, fragte der ältere Mann meinen Vater, aber der schüttelte den Kopf.
Die anderen rissen die beiden Schubladen aus dem Schrank und kippten den Inhalt auf den Tisch. Ein großer Silberlöffel, den mein Vater einmal meiner Mutter aus Königsberg mitgebracht hatte, schien dem älteren Soldaten zu gefallen, und er steckte ihn neben seine Handgranaten hinter den Gürtel.
Gerade als die Soldaten wieder das Haus verlassen wollten, hob sich die Falltür und Martha steckte ihren Kopf heraus und rief mit ihrer hellen Kinderstimme: ›Ich will hier raus. Es ist so dunkel da unten!‹
Die Soldaten redeten aufgeregt aufeinander ein. Einer zerrte das Kind heraus und ein anderer zog eine Handgranate aus dem Gürtel. ›Nicht!‹, rief mein Vater und zeigte auf das Kellerloch. ›Meine Frau ist noch da unten! Komm heraus, Lisa!‹, rief er. ›Komm heraus aus dem Keller.‹
Zitternd stieg meine Mutter die Stufen empor. Ihr schwerer Zopf hatte sich gelöst. Sie hatte mit fünfzig schon schneeweiße Haare, die ihr lang bis über die Hüften herabhingen.
›Du Hexe?‹, fragte einer und fuchtelte mit der Gewehrmündung vor ihrem Gesicht herum.
Mutter war stumm vor Schreck und hielt die Hände abwehrend vor ihr Gesicht.
Mit schnellem Griff hatte ein kleiner, strohblonder Soldat ihren Arm gepackt und zog ihr mit solcher Gewalt den Trauring vom Finger, dass meine Mutter laut aufschrie.
›Gold! Gold!‹, rief er triumphierend und reckte die Hand mit der Beute so hoch, dass er die Zimmerdecke berührte.
›Mehr Gold!‹, schrie der ältere Soldat, aber wir schüttelten den Kopf.
Da steckte der Blonde den Ring in die Tasche und schnappte sich die kleine Martha. ›Wo Gold?‹, schrie er und schüttelte das Kind. Martha war wie gelähmt, brachte keinen Laut hervor und starrte den Soldaten aus großen Angstaugen an. Zwei andere durchstöberten nun den Schrank und die Truhe und warfen Geschirr und Wäsche auf den Boden.
Mutter hatte die Luke zugeklappt und es war ihr nur recht, dass die Tischdecken und Laken über die Falltür unter dem Tisch
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